Das Spiel der Gentlemen - Meisterliches Cricket aus Schleswig-Holstein

Auf der Cricket Pitch des 1. Kieler Hockey- und Tennisclubs (KHTC) am Rande des Kieler Nordmark-Sportfeldes ist von den folgenden Zahlen wenig zu spüren: Die weltweit beliebteste Sportart mit 3,5 Milliarden Anhängern ist der Fußball. Klar, keine Überraschung. Aber auf Platz zwei folgt dann auch schon Cricket mit 2,5 Milliarden Fans.

 

Der Nationalsport in vielen Commonwealth-Staaten führt in Deutschland ein Schattendasein, kam zuletzt aber in Schleswig-Holstein ganz groß raus. Das hat auch mit der Flüchtlingswelle von 2015 und 2016 zu tun. Eine Spurensuche.

Zurück auf dem Cricketfeld des KHTC. Vor nicht allzu langer Zeit war es undenkbar, hier Jagd auf das Wicket zu machen. Denn der Flüchtlingsstrom in Deutschland war für die heute 60-köpfige KHTC-Cricket-Sparte Fluch und Segen zugleich. Denn einerseits kamen mit den Flüchtlingen auch viele Cricket-Spieler aus Syrien oder besonders Afghanistan. Andererseits brauchte die Stadt Kiel genau das Cricketfeld am Kopperpahler Teich, errichtete dort eine Flüchtlingsunterkunft. Container, Leitungen, Infrastruktur – an Sport war nicht zu denken. Aber als die Flüchtlinge wieder gegangen waren, hielt die Stadt Kiel ihr Versprechen, richtete das Feld wieder her. „Von 2015 bis 2017 hatten wir eine gute Kooperation mit dem Kummerfelder SV, der unsere Spieler aufgenommen hat – Kiel Kummerfeld United“, sagt Akbar Piekuszewski.

Der 51-Jährige ist Spartenleiter Cricket im KHTC. Er kam 1990 aus Pakistan nach Deutschland und brachte „seinen“ Sport mit. Ab 1995 wurde auf dem Professor-Peters-Platz gespielt, seit 2001 organisiert im KHTC. Die Spieler kommen aus England, Australien, Indien, Pakistan, Sri Lanka. Sie sind oder waren nicht nur Flüchtlinge, sondern kamen aus beruflichen Gründen, zum Studieren, arbeiten bei Geomar, fast alle eint ein Migrationshintergrund, allein 17 Studenten stammen aus Bangladesch. „Wir hätten gern mehr Europäer“, sagt Piekuszewski, für den Cricket perfekt geeignet ist, „um die Menschen aus den Ländern, in denen Cricket so beliebt ist, in Bewegung zu bringen“. Da sei Cricket auch in sozialer Hinsicht ein gutes Ventil, denn: „Cricket ist ein Gentleman Sport. Schauspielereien wie beim Fußball gibt es nicht. Der Umpire (Schiedsrichter) hat das letzte Wort, jeder respektiert und schätzt den anderen. Cricket verbindet“, sagt Piekuszewski.

Über die Norddeutsche Liga kämpfte sich der KHTC bis in die Bundesliga, hat mittlerweile durch die Kinder der ersten „Cricket-Pioniere“ auch eine Jugendgruppe. „Nachdem der Platz wieder eingerichtet war, mussten wir auch unsere Abteilung neu aufbauen“, erinnert sich Akbar Piekuszewski. Es hat sich gelohnt. In diesem Jahr machte die European Cricket Series mit zehn Mannschaften aus Norddeutschland zwei Wochen lang in Kiel Station – mediale TV-Aufmerksamkeit inklusive. Auch die „Kieler Premier League“ mit einer soften „Tennisball“-Variante erwies sich als Magnet. „Das europäische Turnier wollen wir gern wiederholen.“

Sieger in Kiel wurde der Kummerfelder SV, der das nördlichste Bundesland ohnehin neu auf der deutschen Cricket-Landkarte verankert hat. 2019 und 2020 wurde der KSV deutscher Meister, belegte in diesem Jahr Rang drei. In Kummerfeld sind rund die Hälfte der 200 schleswig-holsteinischen Cricket-Spieler beheimatet – in drei Männermannschaften, einem Frauenteam und einer Jugendgruppe. Dabei wurde die Sparte erst 2017 gegründet, profitierte besonders von Flüchtlingen aus Afghanistan. „Sie kamen 2015 und 2016, sind heute top integriert und lassen beim Cricket ihre Vergangenheit hinter sich, sind glücklich“, hat Hassan Waseem beobachtet. Der 36-jährige, der ebenfalls pakistanische Wurzeln hat, lernte das Cricket erst durch seine Frau kennen. Schnell musste ein TV-Receiver her, mit dem britische Cricket-Übertragungen empfangbar waren.

Heute organisiert Waseem nicht nur Cricket im KSV, sondern ist auch Vorstand Sport beim Norddeutschen Cricket Verband sowie Vorstand Leistungssport beim Deutschen Cricket Bund. „Kummerfeld wurde in kürzester Zeit der erfolgreichste Klub in Deutschland“, sagt Waseem nicht ohne Stolz. Rund 90 Prozent der deutschen Cricket-Spieler haben ausländische Wurzeln. Durch die aktuelle Krise in Afghanistan erwarten die Verbandsverantwortlichen weitere Flüchtlinge. „Dabei haben wir fast schon zu viele Spieler, müssen uns einen Platz mit den Fußballern teilen. Wir müssen jetzt abwarten, ob es einen neuen Flüchtlingsboom gibt“, sagt Waseem, der auch als Integrationslotse für den Landessportverband fungiert.

Für die Cricket-Asse im Norden beginnt jetzt die Hallensaison. Die Pitch des 1. KHTC ist für die kommenden Monate erst einmal wieder verwaist. Aber das Flair, das beim Cricket mit seiner Mischung aus relaxter Atmosphäre und sportlichem Ehrgeiz herrscht, sollte jeder einmal erlebt haben. Zum Beispiel in Kiel oder Kummerfeld.

Informationen über Cricket:

Die Geschichte des Cricket reicht bis ins 16. Jahrhundert zurück. Wahrscheinlich wurde die Sportart in sächsischer oder normannischer Zeit von Kindern in Südostengland erfunden. Im 17. Jahrhundert wurde Cricket ein wichtiger Sport für das Wettgeschäft im Königreich, zog im 18. Jahrhundert zusehends auch (adlige) Mäzene an. Erste Regelwerke („Articles of Agreement“) sind aus dem Jahr 1727 bekannt, die „Laws of Cricket“ wurden 1744 niedergeschrieben.

Durch den Kolonialismus erreichte Cricket zunächst Nordamerika, danach karibische Regionen, Indien, Australien, im 19. Jahrhundert auch Neuseeland und Südafrika. Zum ersten Ländervergleich kam es 1844 zwischen den USA und Kanada. Die spätere Dominanz von England und Australien wurde erst nach dem Zweiten Weltkrieg von Mannschaften aus Westindien oder Asien gebrochen. Zusätzliche Attraktivität erlangte der Sport in den 1960er Jahren durch die Einführung des „One-Day-Cricket“ (zuvor dauerte ein Spiel mit Lunch- und Teepausen bis zu fünf Tage), ab 2003 durch die neue Spielform „Twenty20“. Derzeit führt England die Weltrangliste vor Indien und Neuseeland an, gefolgt von Australien, Südafrika, Pakistan, Bangladesch, Sri Lanka, den Westindies und Afghanistan.

In Deutschland wurde Cricket erstmals ab 1873 in Berlin von Engländern und Amerikanern gespielt. Wenig später schwappte die Sportart so auch nach Helgoland. Durch die sogenannte Flüchtlingswelle von 2015 und 2016 stieg die Zahl der Mannschaften in Deutschland von 70 im Jahr 2012 bis 2018 auf mehr als 300 und von 1200 auf mehr als 6000 Aktive im 1988 gegründeten Deutschen Cricket Bund (DCB).

Schleswig-Holstein war lange ein unbeschriebenes Blatt auf der Cricket-Landkarte. In Kiel wurde ab 1995 zunächst auf dem Professor-Peters-Platz gespielt, ab 2001 organisiert beim 1. Kieler HTC. Heute spielen rund 200 Aktive im nördlichsten Bundesland Cricket. Der Kummerfelder Sportverein wurde 2019 und 2020 sogar deutscher Meister. Neben dem 1. KHTC, der ebenfalls in der Bundesliga startet, wird auch bei den Helgoland Pilgrims auf Helgoland der Cricketschläger geschwungen – allerdings außerhalb des offiziellen Ligaspielbetriebs. Der Husum Cricket Club, der seine Spiele in Hattstedt austrägt, nimmt am dänischen Ligabetrieb teil.

Wichtigste Regeln: In einem Cricketspiel treten zwei Teams mit je elf Spielern gegeneinander an. Auf dem ovalen Spielfeld befinden sich die Akteure der Feldmannschaft und zwei Spieler der Schlagmannschaft. In der Mitte des Spielfeldes ist ein Streifen (Pitch) von etwa 20 Metern Länge untergebracht, an dessen schmalen Enden sich jeweils eine Holzkonstruktion (Wicket) befindet. Ziel der Feldmannschaft ist es, mit Hilfe ihres Werfers (Bowler) mit dem Ball das Wicket des Gegners zu zerstören. Um dieses zu verhindern, steht vor jedem Wicket ein Schlagmann (Batter) und wehrt den Ball mit einem Schläger ab. Verfehlt dieser den Ball, so dass das Wicket zerstört wird, ist der Batter ausgeschieden, ebenso wenn sein geschlagener Ball von der Feldmannschaft aus der Luft gefangen wird. Gelingt dem Batter ein Schlag, so läuft er zur anderen Seite des Pitches und tauscht mit seinem Partner die Plätze. Für jeden Seitenwechsel bekommt sein Team einen Punkt (Run). Ein Spiel ist in zwei oder vier Spielabschnitte (Innings) geteilt, in denen jede Mannschaft abwechselnd jeweils ein Inning lang Schlag- oder Feldmannschaft ist. Das Inning ist beendet, wenn bei der Schlagmannschaft zehn Spieler ausgeschieden sind oder wenn eine vorher festgelegte Anzahl von Durchgängen (Over) absolviert ist. Sieger ist, wer die meisten Runs geholt hat.

Text:Tamo Schwarz

 


  • Hassan Waseem
    Hassan Waseem