Der Prophet war ein Athlet

Musliminnen sollen keinen Sport treiben? Blödsinn, sagt Tuba Isik. Die islamische Religionspädagogin über die Rolle des Sports im Islam und weit verbreitete Irrtümer zum Schwimmunterricht.

Protokoll: Nicolas Richter

 

Tuba Isik war acht, als ihr Vater ihr das Schwimmen beibrachte; eine von vielen Sportarten, zu der der Theologe sie und ihren Bruder animierte, von Wandern bis Basketball. Heute schwimmt sie nicht mehr, seit Jahren: In ihrer Umgebung, sagt die gläubige Muslimin, gebe es kein Angebot ausschließlich für Frauen. Und ein Burkini ist für sie, die sportlich Orientierte, keine Lösung. Kurz: Die Religionspädagogin an der Paderborner Universität ist selbst betroffen von jener Diskussion, die sie mitführt und die den Sport und die ganze Gesellschaft umtreibt: Was bedeutet es, wenn der Islam zu Deutschland gehört? Wir bitten Tuba Isik, über zentrale Aspekte des Verhältnisses von Islam und Sport aufzuklären. 

Wissenslücke: Was sagt der Koran zum Thema „Sport“?

Es gibt zwei Orientierungsquellen für Muslime. An erster Stelle steht der Koran, an zweiter stehen die traditionelle Handlungsweisen und Aussagen des Propheten Muhammad, die Sunna. Im Koran steht explizit nichts über Sport, in der Sunna schon. Der Prophet regte zum Laufen und Ringen an und dazu, Reiten, Schwimmen und Bogenschießen zu lernen; einige dieser Sportarten übte er selbst aus. Manche Muslime nehmen das wörtlich und favorisieren diese Sportarten; andere stellen seine Empfehlungen in den historischen Kontext und verstehen sie als generellen Aufruf zu körperlicher Betätigung.

Das passt auch zum Koran, denn der versteht den Menschen als Geschöpf Gottes, dem der Körper anvertraut ist. Deswegen muss er seinen Körper gut behandeln und pflegen. Diese Vorstellung hat, etwa als der Boxer Muhammad Ali Muslim wurde, zu theologischen Debatten geführt, ob Boxen und andere verletzungsträchtige Sportarten erlaubt seien. Letztlich müssen das die Muslimin und der Muslim selbst abwägen.

Behauptung: Die Rollen von Mann und Frau im Islam sind schwer vereinbar mit dem modernen, emanzipatorischen Geschlechterbild westlicher Gesellschaften.

Diese Vorstellung ist vor allem bei Nicht-Muslimen verbreitet. Aber dass es unterschiedliche Bilder von Frauen- und Männerrollen gibt, ist eine Binsenweisheit. Und gilt für alle Gesellschaften, Kulturen und wohl auch Zeiten – das ist keine Frage der Religion, sondern der kulturellen Codes. Konkret: „Der Islam“ existiert nicht, und er ist keine Person; seine Anhänger interpretieren, was sie als „islamisch“ auffassen. Denn aus dem Koran lassen sich schwerlich einseitige Rollenbilder ableiten, und in der islamischen Frühzeit scheint es keine sozialen Beschränkungen gegeben zu haben, etwa beruflicher Art: Frauen waren als Unternehmerinnen, Gelehrte oder Marktaufseherinnen tätig.

Klischee: Gläubige Musliminnen in Deutschland machen nur sehr eingeschränkt Sport; ältere Mädchen etwa dürfen nicht am schulischen Sport- oder gar Schwimmunterricht teilnehmen.

Diese Vorstellung wird von der Praxis Lügen gestraft; leider mit wenig Auswirkung auf die Berichterstattung. Religiösen Eltern ist es sehr wichtig, dass ihre Töchter Sport treiben, eben weil sie die prophetische Tradition gut kennen, inklusive der Empfehlung zu schwimmen. Allerdings müssen dafür Rahmenbedingungen erfüllt sein, damit nicht andere religiöse Regeln größeren Gewichts verletzt werden. So gelten Mindestbekleidungsregeln, nach denen Männer wie Frauen am Oberkörper bis zum Oberarm und am Unterkörper bis oberhalb des Knies bedeckt sein müssen. In gemischtgeschlechtlichen Gruppen müssen Frauen zudem das Haar und den gesamten Körper mit Ausnahme des Gesichts, der Füße und der Hände bedecken. Das ist bei Konflikten um den ko- oder monoedukativen Schwimmunterricht der Knackpunkt, nicht der Sport selbst.

Grundsatzfrage: Welchen Stellenwert hat das Sporttreiben in islamisch geprägten Gesellschaften?

Insgesamt nimmt das Bewusstsein für einen gesunden und kultivierten Körper auch bei Muslimen zu, und es gibt viel mehr Sportangebote als früher. Diese Entwicklung schlägt sich im internationalen Leistungssport nieder – leider erfahren wir davon meist erst, wenn Athletinnen das Recht einklagen, ihren Sport mit Kopftuch auszuüben, wie zuletzt die bosnische Basketballerin Indira Kaljo. Oder wenn muslimische Frauen in typischen Männersportarten auftauchen, wie die Berliner Boxmeisterin Zeina Nassar.

Darüber hinaus lassen sich für „die islamischen Länder“ kaum gültige Aussagen treffen. Das ist vor allem eine Frage der Lebensverhältnisse: In Ägypten, wo der größte Teil der Bevölkerung in Armut lebt, wird sich Sport – für den man ja meistens Geräte und Einrichtungen braucht – überwiegend im Privaten abspielen; nur wenige, etwa Mitglieder von Militär- oder Automobilclubs, haben Zugang zu Fußball- und Tennisplätzen oder Aerobic-Angeboten. In wohlhabenderen Ländern mit größerer Mittelschicht, wie am Golf, ist das anders.

Bilanz: Welche Rolle kann der Sport bei der Integration von Muslimen spielen?

Ich denke, dass Sport für Menschen mit Migrationshintergrund eine der besten Möglichkeiten – wenn nicht die beste – darstellt, die gängigen Umgangsformen im täglichen Miteinander zu erlernen. Ich halte politische Forderungen, insbeson- dere Flüchtlingen deutsche Rollen- und Wertvorstellungen zu vermitteln, indem man sie übersetzte Grundgesetztexte lesen lässt, für Nonsens. Handlungsweisen und Empathie eignet man sich durch Anschauung und Einübung an. Wir müssen Räume schaffen, in denen frisch Zugewanderte Deutschen begegnen, sich mit ihnen austauschen können und ihren Umgang miteinander erleben.

Besonders vor dem Hintergrund, dass viele Flüchtlinge traumatische Erfahrungen gemacht haben, erachte ich Sport auch als guten Weg, Normalität und Struktur in ihren Alltag zu bringen. Zudem kann Sport Angestautes oder Stress zu verarbeiten helfen und das Selbstwertgefühl stärken. Eins ist dabei wichtig: Wir können nicht davon ausgehen, dass jeder, der den Fuß über die Grenze setzt, deutsche Gepflogenheiten sofort richtig einordnet. Das braucht Zeit. Nicht umsonst verdienen interkulturelle Coaches viel Geld damit, Manager im Umgang mit ausländischen Geschäftspartnern zu schulen.

 

ÜBER TUBA ISIK

Tuba Isik, 1981 in Mainz geboren, studierte in Göttingen Pädagogik und Rechtswissenschaften und promovierte anschließend am Zentrum für komparative Theologie und Kulturwissenschaften (ZeKK) der Universität Paderborn. Seit Anfang 2016 lehrt und forscht sie dort im Seminar für Islamische Theologie. Zu ihren Arbeitsschwerpunkten gehören die islamische Religionspädagogik – sie entwickelt didaktische Konzepte für den islamischen Religionsunterricht – und die Chancengleichheit muslimischer Frauen. Tuba Isik ist Alumna der Friedrich-Ebert-Stiftung, sitzt im Vorstand des ZeKK und nahm als Einzelperson an der vom Bundesinnenministerium initiierten Deutschen Islam Konferenz 2009 bis 2013 teil.