Sehr geehrte Frau Ridder-Melchers, der Sport leistet einen großen Beitrag bei der Integration von Aussiedlern und Ausländern. Worin liegt seine besondere Stärke, um etwas zu leisten, was andere gesellschaftliche Bereiche nicht können?
Ilse Ridder-Melchers: Gesellschaftliche Wandlungsprozesse - wie Modernisierung, Individualisierung, Globalisierung und die Auflösung der tradierten Geschlechterrollen - haben auch den Sport und seine Organisationen verändert.
In Sportvereinen schlagen sich die Effekte und Probleme dieser Entwicklung ganz konkret nieder. Sportvereine sind Orte, wo das Selbstbewusstsein gestärkt wird, wo gemeinsame Erfahrungen gemacht werden. Im Sport wird Stress abgebaut, Sport ermöglicht ganz einfach soziales Lernen von Regeln und Respekt vor unterschiedlichen Kulturen. Und nicht zuletzt macht Sporttreiben Spaß. Gemeinsame Erfolge und Niederlagen stärken das Gemeinschaftsgefühl.
Sport bietet große Integrations- und Partizipationschancen für Menschen unterschiedlicher Herkunft. Seit den 70ern setzt die "soziale Offensive des Sports" bei diesem Integrationspotenzial an. Die positiven Erfahrungen und Erfolge der Kampagne "Sport für alle" sind unbestritten. Auch wenn der Organisationsgrad von Migrantinnen und Migranten in Sportvereinen noch immer unterdurchschnittlich ist, bindet der Sport heute schon mehr zugewanderte Menschen als jede andere freiwillige Personenvereinigung in Deutschland.
Das flächendeckende System von über 89.000 Sportvereinen ermöglicht eine optimale Wirksamkeit in Ballungsgebieten und im ländlichen Raum und erreicht so auch soziale Brennpunkte. Sportvereine verfügen über ein hohes soziales Potenzial und Erfahrungen in integrativer und pädagogischer Arbeit.
Uns ist bewusst, dass im Sport auch Konfliktpotenzial liegt. Beim Sport kommen Menschen zusammen, aber gerade dadurch schafft er auch Anlässe für Konflikte durch (körperliche) Nähe, im Wettstreit, in der Konkurrenz, im Freisetzen von Emotionen, zwischen konkurrierenden Gruppen - Sport wirkt nicht per se integrativ.
"Sport wirkt nicht per se integrativ."
Der organisierte Sport mit dem Deutschen Sportbund an der Spitze fördert mit dem Programm "Integration durch Sport" (IdS) die Eingliederung von AussiedlerInnen und AusländerInnen? Welche Vorteile hat dieser Weg?
Ilse Ridder-Melchers: Sportvereine, die sich besonders für die Integrationsarbeit engagieren, werden als Stützpunktvereine bezeichnet. Sie sind in regionalen Netzwerken verankert und gewährleisten eine langfristige und kontinuierliche Integrationsarbeit. Sie fördern die Integration der Migrantinnen und Migranten durch deren Einbindung in den Trainings- und Wettkampfbetrieb und ins Vereinsleben mit seinen vielfältigen kulturellen und freizeitorientierten Angeboten.
Neben der Öffnung der Sportvereine für diese Zielgruppe und ihre Einbindung in die Vereinsstrukturen ist es Aufgabe der Sportorganisationen, Freiräume für ethnische Belange zuzulassen. Dabei ist die gleichberechtigte Teilhabe von Migrantinnen und Migranten in den Sportstrukturen und die Schaffung von Freiräumen innerhalb der Sportorganisation nur eine Facette des sozialen Engagements. Zugleich kann bei Mitgliedern des Vereins soziale Verantwortung, Toleranz und soziale Kompetenz entwickelt und gelernt werden. Mitglieder erleben in den Sportvereinen Solidarität und Gemeinschaft, Anerkennung und Achtung. Entsprechend seiner demokratischen Strukturen fördert der Verein zivilbürgerschaftliches Engagement innerhalb des Vereins und darüber hinaus. Mitglieder können in den Vereinen Verantwortung für andere übernehmen und sich in das Gemeinwesen einbringen.
In unserer Bremer Grundsatzerklärung "Sport und Zuwanderung" - verabschiedet vom DSB-Bundestag im Dezember 2004 - haben wir unsere Vereine zum Aufbau solcher offenen interkulturellen und partnerschaftlichen Strukturen in ihren Vereinen ermuntert.
Hinweis für interessierte LeserInnen: Die Bremer Grundsatz-Erklärung wird demnächst unter Service-downloads abzurufen sein
Durch die schrecklichen Vorkommnisse in den Niederlanden sind moslemische Mädchen / Frauen und ihre Schwierigkeiten besonders in den Blickpunkt der Öffentlichkeit gerückt. Wie kam es, dass ihre Belange bisher kaum berücksichtigt wurden?
Ilse Ridder-Melchers: Dafür gibt es vielfältige gesellschaftliche und kulturelle Gründe. Migrantinnen sind noch immer stark in den familiären Kontext eingebunden und zu einem geringeren Teil erwerbstätig als deutsche Frauen. Durch die ausgeprägte Bindung an das häusliche Umfeld werden existierende sprachliche Barrieren nicht abgebaut, vielleicht sogar noch verstärkt. Offene und versteckte Diskriminierung der Aufnahmegesellschaft erschweren die Lebenssituation, Ausbildungs- und Berufschancen.
Ausländische Mädchen und Frauen in die Sportvereine zu integrieren ist durch diese familiäre und gesellschaftliche Rolle schwieriger, da oft auch noch durch Kultur und Religion nur bestimmte Bewegungsformen kulturell legitim und akzeptiert sind.
"Sportstätten sind keine Orte, die Mädchen und junge Frauen gemeinsam mit Freundinnen oder Freunden häufiger besuchen."
Was kann der Sport vermehrt tun, um diesen Mädchen/ Frauen zu helfen?
Ilse Ridder-Melchers: Im Auftrag des Bundesministeriums für Familien, Senioren, Frauen und Jugend wurden von Ursula Boos-Nünning und Yasemin Karakasoglu die Lebenslagen von Mädchen und jungen Frauen mit griechischem, italienischem, jugoslawischem, türkischem und Aussiedlerhintergrund untersucht.
Als ein Ergebnis wird festgehalten, dass Sport in der Freizeit der Mädchen und jungen Frauen keine wichtige Rolle spielt. Weniger als ein Drittel der Mädchen geben Sport als eine Freizeitbeschäftigung an, die sie sehr oft oder oft pflegen; die meisten anderen Freizeitbeschäftigungen wie z.B. Musik hören, Bummeln, Kino und Fernsehen wie auch Familienfeste besuchen haben einen deutlich höheren Stellenwert. Sportstätten sind keine Orte, die Mädchen und junge Frauen gemeinsam mit Freundinnen oder Freunden häufiger besuchen; drei Viertel besuchen sie selten oder nie, lediglich 14 bzw. 12 Prozent manchmal bzw. oft oder sehr oft und damit weitaus seltener als viele andere Einrichtungen.
Nur eine Minderheit zeigt ein großes Sportengagement, insgesamt aber wünschen sich 45 Prozent der Mädchen mehr Möglichkeiten, öfter Sport treiben zu können. Dabei stehen Selbstverteidigungskurse für Mädchen ganz oben auf der Wunschliste noch vor Mädchensportgruppen.
Die Untersuchung kennzeichnet diese Mädchen aus Zuwanderfamilien als Hoffnungsträgerinnen, die stark bildungs- und berufsorientiert sind, mit zunehmend besseren Leistungen und Abschlüssen, offen für Gemeinsamkeiten, ohne Aufgabe der eigenen Kultur: bereit, "viele Welten zu leben."
Hier muss der organisierte Sport mit seinen vielfältigen Möglichkeiten ansetzen. Mädchen und junge Frauen mit Migrationshintergrund treiben Sport, wenn sie sich an öffentlichen Orten aufhalten können und wenn ihnen ethnisch gemischte Gruppen offen stehen und zugänglich sind.
Müssen bei der Integration nicht insgesamt die Interessen der Mädchen / Frauen verstärkt berücksichtigt werden?
Ilse Ridder-Melchers: Ein ganz klares Ja. In der bereits erwähnten Bremer Erklärung stellen wir fest, dass Mädchen und Frauen stark unterrepräsentiert sind und kaum am organisierten Sport teilnehmen. Das wollen wir ändern. Aus der Zielgruppenarbeit "Sport mit Migrantinnen" des Landessportbundes Nordrhein-Westfalen lässt sich ein zentrales Ergebnis und Folgerung der wissenschaftlichen Begleitung von Friederike Beier und Marie-Luise Klein festhalten:
Es besteht ein hoher Bedarf an zielgruppenorientierten Sport- und Bewegungsarrangements, die auf die Interessen und Bedürfnisse von Mädchen und Frauen ethnischer Minderheiten zugeschnitten sind. Einen besonderen Zuspruch finden Schwimmangebote, da das Baden und Saunieren in den Kulturen der Herkunftsländern der Frauen verankert ist. Zum anderen wurde auf die in diesem Sportbereich bislang bestehenden Benachteiligungen durch die Aufnahmegesellschaft vor allem für muslimische Frauen hingewiesen, da hier Angebote fehlten, die den Bedürfnissen der Frauen entsprechen. Wir wollen, dass FunktionsträgerInnen und ÜbungsleiterInnen in den Vereinen dafür sensibilisiert werden, Migrantinnen als Übungsleiterinnen und für die aktive Mitarbeit in den Vereinen gewonnen werden. (Bremer Erklärung)
Bei allen Projekten der interkulturellen Öffnung des Sports sind Mädchen und Frauen unter den Zugewanderten die wichtigsten Zielgruppen, hier sind liegen noch hohe Wachstumspotenziale. Hier sollten Programme weiter ausgebaut werden, die sowohl sensibel für die kulturellen Unterschiede als auch die unterschiedlichen Bedürfnisse von Mädchen und Frauen, Jungen und Männern eingehen. Eine Anforderung, die bereits von der Sportjugend NRW mit der Qualifizierungsmaßnahme "Sport interkulturell" federführend entwickelt wurde und heute vom DSB-Programm "Integration durch Sport" bundesweit angeboten wird.
"Beim gemeinsamen Sporttreiben ist eine Verständigung schnell hergestellt, die Menschen brauchen keine Grammatik dafür."
Wie können Sport und das notwendige Erlernen der deutschen Sprache für Migrantinnen und Migranten besser miteinander verknüpft werden, um den Integrations-Prozess voranzubringen?
Ilse Ridder-Melchers: Integration bedeutet die Erfahrung, dass verschiedene Lebensarten und Traditionen nicht im Widerspruch zur gleichberechtigten Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen stehen. Integration kann und darf daher nicht Assimilierung bedeuten, sondern meint eine permanente Verständigung über gemeinsame Grundlagen und Regeln des Zusammenlebens in einem Gemeinwesen. Das Erlernen der deutschen Sprache nimmt dabei eine Schlüsselqualifikation ein und ist wichtige Voraussetzung für die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, an der Bildung, Ausbildung und Beschäftigung.
Die seit Mitte der 90er rückläufige Anzahl an qualifizierten Bildungsabschlüssen und der geringer werdende Anteil an betrieblicher Ausbildung macht dabei ebenso Sorge, wie die spezifische Arbeitslosenquote der Zugewanderten. Die dadurch vorhandenen Sprachprobleme erklären sich zu einem großen Teil durch die kontinuierlich stattfindende Neuzuwanderung im Rahmen von Familienzusammenführung, Flucht und Arbeitsmigration sowie durch nicht genügend spezifizierte schulische Angebote.
Umso wichtiger sind unsere niedrigschwelligen Angebote im Sport. Beim gemeinsamen Sporttreiben ist eine Verständigung schnell hergestellt, die Menschen brauchen keine Grammatik dafür. Das gemeinsame Spiel, die persönlichen Kontakte und Begegnungen bauen schnell Hemmnisse ab und stärken den Wunsch, die sprachliche Verständigung zu verbessern. Viele Sportvereine arbeiten mit Netzwerken zusammen und können die, die ihre Sprachkenntnisse verbessern wollen, gezielt weitervermitteln.
Integration erledigt sich nicht mit der Zeit von alleine. Die soziale Integration zu fördern, erscheint wichtiger denn je. Erfolgreiche Integration zielt nicht allein auf die zugewanderte Bevölkerung, sie erfordert besonders auch die aktive Mitwirkung der Aufnahmegesellschaft und das Bewusstsein, dass kulturelle Vielfalt kein Mangel sondern ein Reichtum ist.