„Grammatik bleibt draußen“

Klettern mit Flüchtlingsfamilien bedeutet für Markus Springer nicht nur Integration im herkömmlichen Sinne. Es ist eine Möglichkeit, direkt zu helfen.

 

Bild: privat
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Die DAV Sektion Reutlingen bietet Sport für alle Altersklassen in der freien Natur an: Ski und Snowboard im Winter, Wandern, Radfahren und Klettern ganzjährig. Markus Springer, kletterbegeisterter Jugendreferent, betreut eine ganz besondere Klettergruppe. Seine Teilnehmer*innen klettern als Integrationsgruppe gemeinsam – jung und alt, deutsch und ukrainisch.

Herr Springer, erzählen Sie mal. Wie kam die Idee einer Integrationsklettergruppe auf?

Das Angebot hat schon während der Zeit der syrischen Flüchtlinge angefangen. Damals wurden einzelne Termine für betreutes Klettern angeboten. Es wurde nur sporadisch angenommen und schlief dann auch wieder ein. Als dann der Ukrainekrieg ausbrach, wurde der zum Anlass genommen, das Angebot aktiver aufzunehmen. Dieses Mal wurde das Angebot gemeinsam mit Dialog e.V. aufgenommen, der ersten Anlaufstelle für Flüchtlinge in Reutlingen. Wir Trainer wurden gefragt, ob wir uns beteiligen wollen, und dadurch bin ich dazu gekommen.

Dann gab es ja schon Vorerfahrungen und das Projekt war bekannt.

Tatsächlich war das Angebot am Anfang gar nicht gut besucht. Nach den ersten drei wahrgenommenen Terminen, von vier angebotenen, haben wir das Angebot auch über die Sommerferien 2022 ruhen lassen. Im November darauf begannen wir wieder, mit einer Ansprechperson bei Dialog e.V., die über ein halbes Jahr Kinder und Jugendliche regelmäßig zu uns begleitet hat. Und wir konnten dadurch für das erste Jahr ein wöchentliches Klettertraining anbieten.

Besteht das Angebot nur für Kinder und Jugendliche?

Nein, das hat sich schon am ersten Tag herausgestellt. Ein Mädchen hatte mich angesprochen: „Meine Mama hat schon in der Ukraine geklettert. Kann sie mitkommen?“ Immer mehr Kinder haben daraufhin ihre Eltern mitgebracht und es entstand eine Art Eltern-Kind-Klettern. Teenager und junge Erwachsene bleiben oft nicht lange dabei, da wir nur einen Einstieg vermitteln können und nur wenig Action bieten. Perspektivisch wollen wir für diesen Altersbereich eine eigene Jugendgruppe aufbauen und diese in Richtung Naturerlebnis und Abenteuer entwickeln.

Teilnehmende, Trainer*innen, eine Kletterhalle. Das sind gängige Voraussetzungen für ein Sportangebot. Beim Integrationsklettern kommt aber dann noch die Sprache hinzu.

 Genau. Wir haben immer zwei erfahrene Trainer in der Gruppe, die auch selbst ihre Kinder mitbringen. Dadurch wird Vieles spielerisch gestaltet, so auch die Sprachanimation. Wir haben auch sehr viel Glück! Unsere Ansprechperson bei Dialog e.V. spricht sehr gut Russisch und war auch das erste halbe Jahr immer mit dabei. Der zweite Glücksfall war, dass in einer der regulären Kinder- und Jugendgruppen die Mutter eines Mädchens vor gut zwanzig Jahren aus der Ukraine ausgewandert ist. Das Mädchen habe ich gefragt, ob sie meine Co-Trainerin sein möchte, weil sie zweisprachig aufgewachsen ist. Seitdem erklärt sie die Sicherungstechniken in der Integrationsklettergruppe auf Augenhöhe der Altersgruppe.

Jetzt reden wir schon eine ganze Weile von Integration. Da drängt sich nun einfach die Frage auf: Was bedeutet Integration für Sie?

Mit dieser Frage habe ich mich am Anfang auch auseinandergesetzt. Als ich in das Thema Klettern für Flüchtlinge eingestiegen bin, wollte ich wegen der Kriegsberichterstattung in den Medien unbedingt helfen. Einfach Geld zu spenden, war mir zu kurzfristig. Dann gab es das Angebot, mit Flüchtlingen zu klettern, und für mich hat sich eine Möglichkeit zu helfen aufgetan. Und es ist am Ende das Gleiche, was ich Deutschen vermittle: die Werte in der DAV. Kameradschaft, Wertschätzung, Bewusstsein für die Natur. Diese Werte sind nicht antiquiert, sondern immer noch da. Beim Klettern kann ich so ukrainischen Menschen zeigen, was die Werte im Alpenverein sind, wie wir ticken. Dass man sich aufeinander verlassen kann. Und wenn wir ein solches Angebot anbieten, auch regelmäßig ansprechbar sind.

Von der eigenen Motivation aus ergeben sich bestimmt weitere Ansatzpunkte für Integration.

Darüber hinaus soll das Klettern auch eine Plattform bieten, auf der die ukrainischen Teilnehmer*innen neben ihrem Sprachunterricht Deutsch lernen. Und das in einem geschützten Raum, wo es nicht um Perfektion geht. Die Grammatik bleibt draußen und sie sollen ausprobieren, welche Wörter sie finden. Dadurch können auch Introvertierte die Sprache über die Emotion lernen, die beim Sport herauskommt. Zusammenfassend ist Integration für mich einmal ein Sprachangebot und die Vermittlung unserer gesellschaftlichen Werte.

Und wenn Sie jetzt rückwärts blicken: Wohin hat sich das Einstiegsklettern entwickelt?

Die Ukrainer sind untereinander gut vernetzt und bringen immer wieder neue Leute mit. Dadurch hat sich ein fester Stamm von etwa zehn, fünfzehn Leuten etabliert. Ich möchte gerne, dass sich dieser Kern so weit entwickelt, dass sie sich im nächsten Jahr zu einem selbstständigen, offenen Klettertreff herausbildet. Dann muss nicht immer ein ausgebildeter Trainer da sein, sondern sie weisen selbst die Qualifikationen vor. Ich wünsche mir, dass die Gruppe dann durchlässig ist für andere Menschen aus anderen Ländern und auch andere Gesellschaftsebenen bei uns Deutschen anspricht.

Noch weiter rückblickend: Was hätten Sie gerne vor der Übernahme des Angebots gewusst?

Die Geschichten, die die Teilnehmer*innen in das Klettertraining mitbringen, lassen einen nicht los. Darauf war ich nicht vorbereitet. Das erste halbe Jahr bin ich aus dem Training rausgekommen und hatte ihre Erzählungen so präsent vor Augen, was sie von zu Hause und ihren Fluchterfahrungen erzählen. Ich konnte mich nicht wirklich davon distanzieren. Mittlerweile geht es, auch dank der Erfahrungen meiner Frau, die als Berufsschullehrerin mit Integrationsklassen arbeitet und mich beraten hat.

Was möchten Sie anderen Vereinen mit auf dem Weg geben, die ähnliche Projekte starten möchten?

Die Sprachbarriere ist gar nicht so das Problem. Man muss offen dafür sein und auch mit Händen und Füßen sprechen. Für alles Weitere gilt es, Geduld zu haben, wenn die Inhalte nicht sofort verstanden werden. Zum Glück haben wir dank des WLSB mit der Finanzierung kein Problem, der uns großartig unterstützt und berät. Im Grunde möchte ich mitgeben: Seid mutig und offen. Sobald man ein Ziel, auch eine Notwendigkeit für die Gesellschaft im eigenen Projekt sieht, wird vieles leichter.

Das Gespräch führte Lisa Rosenberger/WLSB.


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