„Heimat ist alles andere als ein Wohlfühlpaket“ Teil 2

Zweiter Teil des Gesprächs aus der Interviewserie des Bundesprogramms „Integration durch Sport“ mit Ilija Trojanow, Autor des Buches „Meine Olympiade“.

„Ankunft ist nie singulär und abgeschlossen,
sondern immer komplex und vielfältig“, sagt der Schriftsteller Ilija Trojanow. Foto: Regina Schmeken
„Ankunft ist nie singulär und abgeschlossen, sondern immer komplex und vielfältig“, sagt der Schriftsteller Ilija Trojanow. Foto: Regina Schmeken

Frankfurt Süd, wo sonst als in der Nähe eines Bahnhofs sollte man Ilija Trojanow treffen? Der deutsch-bulgarische Schriftsteller ist fortwährend auf Reisen; gerade ist er auf dem Weg zu seinem Buchverlag im Frankfurter Süden, um das nächste Projekt zu besprechen. Ilija Trojanow gehört zu jenen Menschen, die sich nicht nur wegen der zurückgelegten Reisekilometer Kosmopolit nennen dürfen, sondern vor allem aufgrund ihrer Offenheit und des vorurteilsfreien Interesses dem Neuen gegenüber. Seine Überzeugungen und Reflexionen vermittelt er ohne Dogmen und missionarischen Eifer. Ein Gespräch übers Ankommen, das Hiersein und die Fremde, über die Poesie des Sports und darüber, wie er helfen kann, gesellschaftliche Veränderungen anzustoßen. 

Ilija Trojanow

Ilija Trojanow (geboren am 23. August 1965 in Sofia, Bulgarien) kam 1971 nach Deutschland. Kurze Zeit später zog die Familie nach Kenia weiter, dort verbrachte der Schriftsteller seine Jugendjahre in einem Internat in Nairobi, unterbrochen von einem zweiten Deutschlandaufenthalt von 1977 bis 1981. Gemäß dieser frühen Prägung ist Ilija Trojanow Reisender geblieben. Er verbrachte jeweils einige Jahre in Mumbai (Indien) und Kapstadt (Südafrika). Der vielfach prämierte Autor hat mehrere Reiseromane (» Der Weltensammler «) geschrieben und sich mit politischen Beiträgen (unter anderem mit der Schriftstellerkollegin Juli Zeh: „Angriff auf die Freiheit“) positioniert, zudem eine Reihe von Büchern und Essays zu Flucht und Migrationserfahrungen („Nach der Flucht“) publiziert. Literarisch hat er dem Sport mit seinem Werk „Meine Olympiade“ gehuldigt. Darin beschreibt er seinen vier Jahre dauernden Selbstversuch, bei dem er alle 80 olympischen Disziplinen ausprobierte. Ilija Trojanow ist verheiratet und hat seinen Hauptwohnsitz in Wien.

Kann der Sportverein die Lücke ausfüllen, die der Schulunterricht hinterlässt? 

Vereine sind unheimlich wichtig, auch politisch. Wir leben in Zeiten zunehmender gesellschaftlicher Atomisierung, jeder für sich, das ist ein großes Problem. Wenn man zum Beispiel mit den jungen Leuten von der » Fridays for Future «-Bewegung spricht, erlebt man, wie sie durch ihr Engagement begreifen, was Organisation bedeutet, wie sie das Zusammenkommen mit anderen Menschen gestalten kann. Das ist ein Netzwerk, eine Formsprache, sie lernen, wie sie ihre Logistik gemeinsam aufbauen können. Es gibt aus meiner Sicht keinen anderen Weg, gesellschaftliche Veränderungen anzustoßen, als sich zu organisieren. Die Vorstellung, man könne mit einem Klick im Internet irgendwas bewegen, halte ich für blödsinnig. 

Und der Sport leistet Ähnliches? 

Ja, er schafft Einsichten in Formen der Organisation, auch der Selbstorganisation. Wer kommt zum Bolzplatz, wann treffen wir uns, wer bringt den Ball mit? Lauter einfache Fragen, die zu einem tieferen Verständnis der Selbstorganisation beitragen. Dazu zählt auch, dass ein Team innerhalb einer Saison zusammenwachsen kann, unabhängig von Religion und sozialer Herkunft der einzelnen Mitglieder. Es ist eine wichtige Erfahrung für jeden Menschen, dass Gemeinschaften sich konstituieren, dass individuelle Fremdheit abgelegt werden kann. 

Wie würden Sie die Essenz des Sports beschreiben? 

Vielleicht ist es eine Art Poesie. Dass jedes Individuum eine eigene Beziehung zu der jeweiligen Sportart entwickelt. Dass es in seiner Leidenschaft nicht geprägt ist durch fremde Haltungen oder Techniken. So kann der Sport zu einem Wunderwerk seines eigenen kulturellen Raumes werden. 

Wo begegnet Ihnen diese Poesie? 

Zum Beispiel beim Tennisturnier in Wimbledon, wo ich dieses Jahr gewesen bin und Poesie in einer beglückenden Form erlebt habe. 

Bei einem Profiturnier? 

Ja, auf dem Centre Court spielten die Allerbesten, auf den Nebenplätzen die Jugendlichen, die hoffen, künftig die Besten zu werden. Die sogenannten Legends, die waren mal sehr gut, blödelten nun herum, schienen geradezu befreit, nicht mehr um Ruhm und Geld spielen zu müssen. Und dazu die Rollstuhlfahrer, deren Technik der Wahnsinn ist. In der Art, wie sie ihre Rollstühle bedient haben, habe ich auch Poesie entdeckt, genauso wie in der Kombination dieser verschiedenen Gruppen, die alle an einem Ort spielen, sich dem Sport aber ganz eigen nähern. 

Man fühlt sich an die olympische Idee erinnert. Verfängt die bei Ihnen? 

Oh ja. Ich war kürzlich in Sarajevo. Dort ging die olympische Idee 1984 Hand in Hand mit der goldenen Zeit. Es war das letzte Mal, dass das gemeinsame Jugoslawische zelebriert wurde. Volksfest, Beglückung. Da spürt man sehr deutlich, dass die olympische Erinnerung in den Gedanken der Menschen tief verankert ist. Die schwärmen und verklären sie geradezu. Etwa zur selben Zeit wie die Spiele begann die Wirtschaftskrise, die zum Aufflammen des Nationalismus und Jahre später zum Bürgerkrieg führte. Natürlich ist Sarajevo eine ganz kleine Stadt. Es war auch noch eine Zeit, bevor die Kommerzialisierung der Spiele einsetzte, aber man konnte erkennen, welches Potenzial die Idee hätte. 

Im Zusammenhang mit Integration wird der Sport oft auf die barrierefreie Begegnung reduziert, er spreche alle Sprachen, heißt es. Teilen Sie die Ansicht? 

Schwierig, so ein Kalendersatz reizt natürlich zum Widerspruch. Vielleicht kann man es sosagen: Wenn man eine Sportart leidenschaftlich betreibt, lernt man erst mal viele neue Begriffe, quasi eine Sprache. Jeder, der Judo oder Taekwondo kann, weiß, wovon ich spreche. Und dann ist da natürlich die gemeinsame Kommunikation. Wenn Sie falsche Fußballbegriffe benutzen, wird das unter den Mannschaftskollegen wahrscheinlich eher auffallen als ein Fehler im Deutschen. Aber grundlegende Konflikte bleiben doch. Ja, trotzdem ist der Sport eine Nische, vielleicht sogar eine Oase. Der Schwerpunkt der Begegnung liegt woanders, im Hier und Jetzt, und nicht im Konflikt, den zwei Ethnien oder Länder schon seit Jahrzehnten und länger miteinander austragen. Natürlich wird das manchmal ausgehebelt, wenn sich Albaner und Serben auf dem Spielfeld in die Haare geraten. Aber generell gilt, dass man sich in einem kleinen Areal bewegt, mit vorgegebenen Formen, Regeln und eigener Etikette. Deswegen sind die Beziehungen zum Gegner auch meistens von Respekt geprägt. 

Hilft das auch, Toleranz zu üben? 

Toleranz finde ich als Begriff sehr problematisch. Ist man auf der einen Seite tolerant, gehört auch dazu, dass man es auf der anderen nicht ist. Denn Toleranz zeichnet sich durch ein Wertenetz aus, und in dem Augenblick, in dem man dieses definiert, schließt man jene aus, die es nicht teilen. Ich kann nicht tolerant gegenüber einem Rassisten sein. Empathie ist aus meiner Sicht viel entscheidender. Tier- und Verhaltensforscher haben nachgewiesen, dass es unter Tieren ganz ausgeprägte Formen von Hilfe und Solidarität gibt. Wir sind also entwicklungsgeschichtlich empathische Wesen. Für mich ist daher zentral, über die Mechanismen nachzudenken, die diese angeborenen Verhaltensweisen ausschalten. 

Sind Sportorganisationen und Athleten aufgefordert, öfter Stellung zu gesellschaftlichen Themen zu beziehen, so, wie es die US-Fußballerin Megan Rapinoe bei der WM 2019 getan hat? 

Wir wissen aus der Erfahrung des 20. Jahrhunderts, dass die großen symbolischen Aktionen von politisch engagierten Sportlern unglaublich viel Aufmerksamkeit bekommen haben. Dass diese dadurch geradezu Ikonen wurden. Ich denke an die beiden farbigen Sprinter, die bei der olympischen Siegerehrung in Mexiko 1968 ihre Fäuste gegen die Rassendiskriminierung in den USA erhoben haben, oder an die Wehrdienstverweigerung von Muhammed Ali wegen des Vietnamkrieges. Wenn also jemand aufgrund seiner spezifischen sportlichen Fähigkeiten die Aufmerksamkeit aller bekommt, dann ist es zumindest eine vergebene Chance, wenn er seine Möglichkeiten nicht ausschöpft. Man kann Zeichen setzen, die von einer enormen Sichtbarkeit sind. Ganz besonders in Zeiten, in denen Sichtbarkeit aufgrund des Überflusses an Informationen für uns alle ein Problem ist. 

Aus der Popularität leitet sich eine soziale Verantwortung ab? 

In Deutschland ist das für mich eine Frage, die aufgrund der öffentlichen Überfokussierung auf den Fußball auch an die Fußballklubs gestellt werden muss. Eintracht Frankfurt ist ein gutes Beispiel. Der Verein ist zu einem Sympathieträger geworden aufgrund des ungemein attraktiven Fußballs, den die Mannschaft zuletzt gespielt hat. Die Eintracht hat ein kosmopolitisches Team, Präsident und Fans haben sich vorbildhaft gegen Rechtsextreme positioniert. Andere Klubs könnten mehr tun, um in diese Richtung Zeichen zu setzen. Sie sind sich entweder ihrer gesellschaftlichen Rolle nicht bewusst oder zu zaghaft und ängstlich. 

Spitzensportler mit fremden Wurzeln werden oft als gesellschaftliche Vorbilder herangezogen und dienen als Beispiele für gelungene Integration. Eine gute Idee? 

Wir können das ja mal anhand des viel diskutierten Falls Mesut Özil durchspielen. Das habe ich als eine öffentliche Übung der Peinlichkeiten empfunden, von vorn bis hinten. Viele Dinge scheinen nicht verstanden worden zu sein. 

Welche? 

Dass jemand mit einer anderen Herkunft und kulturellen Verbindungen eine andere Haltung zum türkischen Präsidenten einnimmt. Man kann nicht so tun, als sei Özil wie Meier oder Müller. Aufgrund seiner türkischen Herkunft hat er im Sinne des Respekts schon eine andere Rolle gegenüber dem Staatschef, als ein deutsch-deutscher Fußballspieler es hätte. Das hat aus meiner Sicht überhaupt nichts mit Integration zu tun, sondern mit einer Selbstverständlichkeit. Dieses „ihr seid entweder für uns oder gegen uns“ ist eine Form der rhetorischen Gewalt, die völlig inakzeptabel ist. 

Lehnen Sie die Vorbildrolle generell ab? 

Ich finde die Vorstellung völlig absurd, dass Athleten moralisch besser sein sollen als unsere eigene Politik. Dass die EU Deals mit Erdogans Partei macht, damit die Türkei Migrationsströme reguliert und kontrolliert, ist okay. Ein deutscher Fußballspieler darf sich aber nicht mit ihm fotografieren lassen. Das ist Heuchelei für mich. Als wesentlich schlimmer noch empfinde ich die Zuschreibungen, die sich die Mehrheitsgesellschaft gegenüber jemandem wie Mesut Özil erlaubt.

Das empfinden viele Deutsche mit Migrationshintergrund als nicht legitim. Ich zähle mich auch dazu. Es gibt in einer freien Gesellschaft die Verpflichtung, die Sensibilitäten der Minderheiten wahrzunehmen und in einem respektvollen Diskurs zu klären. 

Wann scheitert Integration? 

(holt tief Luft) Die Frage ist so schwer für mich zu beantworten. Was soll Integration bedeuten, es gibt verschiedene Konzepte und Vorstellungen. Wenn Integration bedeutet, dass die Fremden, die zu uns kommen, sich unterwerfen müssen, dann scheitert sie immer. 

Und wann gelingt sie?

Wenn es sich um einen gemeinsamen Prozess handelt: Wir integrieren unterschiedliche Vorstellungen zu einer besseren, vielfältigeren Gemeinschaft. Ich bin ganz optimistisch, dass es uns gelingen kann.

Interviewreihe

Deutschland verändert sich, Deutschland wird vielfältiger. Was bedeutet das für die Gesellschaft,

wie erlebt es der Einzelne, mit und ohne Migrationshintergrund? Und welche Rolle spielt der Sport dabei? Der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) nimmt das 30-jährige Bestehen des Bundesprogramms „Integration durch Sport“ zum Anlass, um Interviews mit Personen aus ganz

unterschiedlichen Lebensbereichen zu führen – über Fragen zu Migration, Integration und Identität. Mal persönlich, mal wissenschaftlich, mal eher entlang abstrakter Fragen. Dieses Interview ist der zweite Teil der Serie, den Auftakt markierte der Punkrocksänger Sammy Amara.

(Quelle: DOSB/Das Interview führte Marcus Meyer)


  • „Ankunft ist nie singulär und abgeschlossen,
sondern immer komplex und vielfältig“, sagt der Schriftsteller Ilija Trojanow. Foto: Regina Schmeken
    Porträt Ilija Trojanow Foto: Regina Schmeken