„Hier ist jeder willkommen“

Beim BC Hanseat auf St. Pauli gehört die Integration Geflüchteter zum Alltag

Von Frank Heike (Text) und Frank Molter (Fotos)

Seilerstraße, St. Pauli, die Reeperbahn in Steinwurfweite: Eine niedrige Halle im Hinterhof. Die Tür angelehnt. Drinnen alles, was das Boxerherz begehrt – Sandsäcke, Punchingbälle, sogar ein echter Boxring mit reichlich Patina. An den Wänden Poster, Bilder, Urkunden, Schecks; dieser Raum ist ein Museum. Mittendrin, jeden Tag: Vereinsgründer und Vorstand Hussein Ismail, seit seiner Flucht aus dem Irak 1978 in Deutschland lebend.

Ein Vereinsportrait in drei Protokollen:

 

Emir, 18 Jahre alt, Gymnasiast: „Ich gehe auf das Struensee-Gymnasium in St. Pauli. Ich stecke mitten in den Abi-Vorbereitungen und schreibe morgen meine Vorklausur in Deutsch, Thema Erörterung. Ich wollte eigentlich zuhause bleiben und lernen, aber ich wusste, ich würde es sowieso nicht tun. Dann lieber jetzt zum Training und danach üben.

Ich habe mit sechs Jahren angefangen zu boxen. Ganz unterschiedliche Trainer hatte ich. Die besten habe ich bei BC Hanseat. Ich habe hier Jürgen Blin kennengelernt! Ich will hier durch mehr Training stärker werden. 
Ich komme zwei- bis dreimal die Woche her. Boxen ist eine Sache der Disziplin. Das lernen wir. Hussein bricht das ganze durch kleine Spiele immer wieder auf.

Es ist eine besondere Stimmung – ich verstehe mich mit jedem gut. Mit den Geflüchteten aus der Ukraine ist es manchmal schwierig, sich zu unterhalten. 
Hussein ist ein Herzensmensch, der uns alle unterstützt. Er hilft jedem. Er hilft auch Leuten, die vor vielen Jahren mal bei ihm geboxt haben und nie wiederkamen. Er macht keine Unterschiede zwischen den Menschen. Hussein spricht etwas ukrainisch, nur ein paar Worte, aber das finden die Ukrainer natürlich super. Insgesamt braucht Boxen keine Sprache – das Boxen setzt sich über Sprachbarrieren hinweg.“

 

Hussein, 62 Jahre alt, Vorsitzender und Boxtrainer: „Wir sind seit 1993 hier in der Seilerstraße. Wir haben viele soziale Schichten. Viele Arbeitslose. Für sie ist es umsonst. Wir haben vieles auf die Beine gestellt und machen es heute noch – Kinderboxen, Frauenboxen, Boxen mit Geflüchteten.

Die gute Tat ist unsere eine Seite. Wir holen Jugendliche von der Straße. Wir wollen die Menschen fit halten, sie sollen Selbstvertrauen haben, Körperbeherrschung lernen, Stressabbau betreiben. Jeder ist willkommen: Unser Manni hier ist 76. Er schließt die Boxsporthalle vor dem Training auf und nach Trainingsschluss ab. Er kommt jeden Tag. Das ist eine Aufgabe für ihn. Wir haben auch einen Lehrer aus Eidelstedt. Der hat Stress an der Schule und kann den hier loswerden. Mir ist egal, woher sie kommen. Wir haben das ganze Paket. 

2015 kamen die Flüchtlinge, vor allem aus Syrien und Afghanistan. Denen haben wir ein kostenloses Angebot gemacht. Erst zweimal die Woche, dann jeden Tag. Wir hatten über die Jahre ein paar tausend Geflüchtete. Einige von ihnen, die in Hamburg geblieben sind und auch gute Jobs bekommen haben, sind nun Jugendtrainer*innen hier.

Seit Anfang des Krieges haben wir ein Projekt für ukrainische Geflüchtete aufgestellt – ein kostenloses Boxangebot. Dadurch haben wir auch sportlich viel Erfolg, denn es sind gute Boxer dabei – es geht uns um Integration, aber wir wollen auch Medaillen. Zehn von ihnen haben einen Kampfpass und haben schon erfolgreich an verschiedenen Boxveranstaltungen und Meisterschaften teilgenommen.

Ich habe mit keinem Boxer Probleme. Ob Syrer, Afghane oder nun Ukrainer. Ich habe für Respekt gesorgt und dafür, dass sie sich gegenseitig verstehen. Es gibt für niemanden Extrawürste: alle geben sich die Hand, wenn sie herkommen. Alle fangen gemeinsam an zu boxen. Keiner tanzt aus der Reihe. Disziplin ist wichtig. 

Neulich meldet sich jemand, der auf der Flucht aus der Ukraine aus Polen anrief und Plätze für seine Kinder reservieren wollte. Ich sage nie nein. Es wird keiner nach Hause geschickt. Wir helfen den Menschen, bringen sie zusammen. Wir helfen bei der Vermittlung in Arbeit und gucken auch nach Wohnungen für sie. 

Wir machen viel mehr als Boxen. Wir haben seit langem eine Hausaufgabenhilfe, wir machen eine Weihnachtsfeier. Wir haben elf Trainingsgruppen und acht Projekte! Unser interreligiöses Projekt läuft super. Das Frauen- und Kinderboxen wollen wir noch ausbauen. 

Wir haben hier viel in Eigenregie geschafft. Nachdem die Stadt mit Hilfe von Senator Andy Grote die Halle gekauft hat, dürfen wir sie als BC Hanseat jeden Tag nutzen. Früher waren wir zweimal die Woche hier – jetzt gibt es jeden Tag Trainingszeit! Die Leute in der Behörde sehen, dass wir Integration machen und Leistung bringen.  

Es hat sich aber etwas verändert. 2015 lag der Fokus sehr auf den Geflüchteten. Viele Sponsoren kamen von allein. Das ist vorbei. Zum Glück unterstützt uns der Hamburger Sportbund seit neun Jahren. Wir wollen noch mehr Integration machen, aber auch mehr reisen, um an noch mehr Wettkämpfen teilzunehmen. Aber dafür benötigen wir Geld.

Du brauchst gute Nerven und ein großes Herz als Trainer. Sonst kannst du das nicht machen! Ich selbst werde nicht aufhören, solange ich gesund bin. Ich habe das hier aufgebaut. Inzwischen haben neun meiner Leute eine Trainer-Lizenz gemacht. 

Wir waren winzig, als wir anfingen. Jetzt sind wir ein bekannter Kulturverein geworden. Das Konzept, das ich geschaffen habe, wird bleiben.“

 

Aaron, 16 Jahre alt, Stadtteilschüler: „Mir tut die Nase weh und mein Daumen ist geschwollen – ich habe bei den Hamburger Jugendmeisterschaften im Halbschwergewicht bis 81 Kilogramm geboxt und gewonnen. Es war mein erster Kampf! Ich kann heute nicht trainieren. Ich bin aber trotzdem hergekommen, um die Leute zu sehen. Ich gehe gleich ein bisschen laufen.
Ich komme jeden Tag zum Training. Meine Mutter ist alleinerziehend. Hier kostet die Mitgliedschaft nur zehn Euro im Monat. Während ich in anderen Boxvereinen zwei Mal trainieren könnte, meistens dienstags und donnerstags, kann ich hier jeden Tag kommen. 

Hussein ist streng, aber nett. Er ist gerecht und hat mir eine Chance gegeben. Er hat gesagt, ich habe Talent und solle mir Mühe geben. 

Ich mag es, dass hier unterschiedliche Leute sind. Wir nehmen es alle sportlich – wir hauen uns schon richtig, wenn wir Sparring im Ring machen, aber danach geben wir uns die Hand und es ist gut.

Viele denken ja, Boxen ist ein Gekloppe. Ist es aber nicht! Wer mit Wut und Aggression kämpft, kommt nicht weit.“