Liebe auf den zweiten Blick

Seit Mohammed Bahaa Syrien verlassen hat, macht sich seine Mutter Sorgen um ihren Sohn. „Wann immer ich mit ihr telefoniere, sagt sie: ‚Mein Junge, ich bete für dich.‘“, erzählt der 34-Jährige. Als er nach seiner Flucht aus Syrien nach vielen Wochen und Monaten schließlich im Schleswig-Holsteinischen Eutin gelandet war, habe er deshalb zu seiner Mutter gesagt: Irgendwas an deinen Gebeten muss nicht in Ordnung sein, ich bin hier am Ende der Welt gelandet. So ein kleines Kaff.“

Man darf das nicht falsch interpretieren: Mohammed Bahaa möchte diese Anekdote keinesfalls als Kritik an seinem neuen Heimatort verstanden wissen, er fühle sich in Eutin wohl, werde freundlich behandelt, respektiert und überhaupt klappe es dort mit der Integration sehr gut, auch bei den anderen Geflüchteten. Aber Bahaa, wie er von seinen Freunden genannt wird, ist in Aleppo geboren, aufgewachsen und hat dort studiert. Eine Kulturhochburg, vielsprachig, multireligiös, quirlig, die vor dem Bürgerkrieg ungefähr so viele Einwohner zählte wie Hamburg, rund 1,8 Millionen, und die in einem Land gelegen ist, das als Wiege der Menschheit gilt. Eutins Melderegister hingegen umfasst nicht einmal 20.000 Einträge. Und selbst wenn die Stadt sich als kulturelles Zentrum der Region an der Holsteinischen Seenplatte preist: Man stößt wahrscheinlich niemanden mit der Feststellung vor dem Kopf, dass die beschauliche norddeutsche Kleinstadt und die einst pulsierende Metropole im Nahen Osten nicht nur rund 3.500 Kilometer voneinander trennen, sondern eigentlich Welten. Kulturschocks wirken eben in verschiedene Richtungen, auch von Ost nach West.  

Mal abgesehen davon, dass Geflüchtete sich in der Regel nicht aussuchen können, wo sie hingehen und leben wollen, sondern von den Behörden eine Stadt zugewiesen bekommen: Eigentlich war Deutschland überhaupt nicht das Ziel von Bahaa, als sich die Chance auftat, aus dem bürgerkriegszerstörten, gefährlichen und hoffnungslosen Heimatland zu fliehen, in dem bereits zwei seiner Brüder umgekommen waren. „Ich hatte Englisch studiert, und dachte daher, England sei das Beste für mich. Dann hätte ich nicht eine weitere Sprache lernen müssen“, sagt er und in der Art wie er es sagt, da glaubt man noch heute rauszuhören, dass die Bekanntschaft des syrischen Anglistikstudenten mit dem Deutschen eher keine Liebe auf den ersten Blick gewesen ist.

Seit seinem ersten Gedanken - Was sprechen die hier eigentlich, das klingt so komisch - sind mittlerweile sechs Jahre vergangen, und von der anfänglichen Abneigung, davon kann man sich nach wenigen Minuten Unterhaltung überzeugen, ist nichts mehr zu spüren. Bahaa bewegt sich nicht nur fließend in der deutschen Sprache, sondern kann seine Ausführungen je nach Bedarf auch mit feiner Ironie oder deftigem Zynismus unterlegen.   

Die Sprache ist Baahas Werkzeug, in seinem Studium der Pädagogik, das er im kommenden Jahr abschließen will, in den DAZ-Klassen (Deutsch als Zweitsprache) an der Kreisberufsschule Ostholstein, bei seinen zahlreichen ehrenamtlichen Aufgaben, und nicht zuletzt bei seiner Tätigkeit als Integrationslotse bei der BSG Eutin, einem Stützpunktverein des Bundesprogramms „Integration durch Sport“. Dort dolmetscht er, und bringt den Kindern und Jugendlichen die deutsche Sprache bei und das Schwimmen. Wobei letzteres immer etwas höhnisch klingt, bei einem Syrer, dessen Fluchtweg übers Mittelmeer führte.  

„Für uns Migranten“ sagt er, „ist es wichtig, dass wir uns engagieren, auch gut präsentieren.“ Er habe darauf gar nicht geachtet als er herkam, aber nach einiger Zeit sei ihm aufgefallen, wie viele Perspektiven sich in diesem Land bieten. Und dann sagt er einen Satz, den alle Politiker gern hören werden: „Hier kann man alles erreichen, was man will. Davon bin überzeugt.“ Und dann folgt noch einer für die gleiche Zielgruppe. „Die Politik läuft gut. Man hat hier seine Rechte“, sagt er, lacht und schiebt nach, „und seine Pflichten.“

Außer Bahaa hat es nur eine Schwester aus Syrien in ein anderes Land geschafft, nach Frankreich. Und sein älterer Bruder, der mithilfe von Bahaa den Weg nach Deutschland fand, allerdings just zu der Zeit ankam, als 2020 die Pandemie begann und das öffentliche Leben im Lockdown verschwand. „Es war traurig, es gab nichts, er kannte nur mich, lebte bei mir, durfte nicht raus. Keine Bekanntschaften, keine Möglichkeit deutsch zu sprechen. Okay, wir hatten uns lange nicht gesehen, aber ein, zwei Wochen, würden ja auch reichen“, sagt er – und man denkt an die Ironie. Mittlerweile hat der Bruder die Hürden genommen und arbeitet als Kraftfahrer für einen großen Konzern.

Bahaa hat die Weichen für seine Zukunft gestellt, einen Antrag auf Einbürgerung in seiner neuen Heimat eingereicht. Er hofft, dass er sie bald erhält, um zu reisen. Das war bisher nicht so wichtig, nur einmal hat er in den vergangenen sechs Jahren für ein paar Tage Urlaub gemacht, aber als sein Vater starb, da konnte er nicht zu der Beerdigung fahren, weil er kein Visum bekam. „Seinen Vater zu verlieren, das passiert einmal im Leben. Da will man dabei sein, und sei es nur für einen Tag oder eine Stunde.“

Und wie geht es weiter? „Ich hoffe auf mehr Struktur und etwas mehr Freizeit, wenn ich das Studium abgeschlossen habe. Ansonsten mache mir kein Gedanken wegen der Zukunft“, sagt er und zitiert eine syrische Lebensweisheit, die auch eine universelle ist: „Wenn sich eine Tür schließt, dann öffnen sich Tausend andere:“

 

Text: Marcus Meyer