„Menschen mit Migrationshintergrund sind doppelt benachteiligt“

Prof. Gerhard Trabert, Lehrstuhlinhaber im Fachbereich Sozialwesen der Hochschule RheinMain, kennt das Thema Armut aus erster Hand. Seit 15 Jahren versorgt er mit dem „Arztmobil“ wohnungslose Menschen medizinisch. Der Wissenschaftler und Arzt erläutert im Interview, inwieweit Armut eine Hürde für die Integration von Menschen mit Migrationshintergrund darstellen kann.

Sind Menschen mit Migrationshintergrund öfter als Einheimische von Armut betroffen? Welche Bevölkerungsgruppen sind besonders gefährdet?

„Bestimmte Bevölkerungsgruppen sind besonders von Armut betroffen: Kinder bis zu 15 Jahren, alleinerziehende Elternteile (in der Regel Mütter), Familien mit mehr als drei Kindern, arbeitslose Menschen, wohnungslose Menschen sowie ausländische Mitbürger – in Zukunft verstärkt auch alte Menschen, chronisch Kranke und Behinderte. Etwa 40 Prozent der arbeitslosen Menschen und ein Viertel der Bürger ohne Schul- oder Berufsausbildung sind von Armut bedroht. Fast ein Drittel der Familien von Alleinerziehenden lebt unter der Armutsgefährdungsgrenze von bis zu 60 Prozent des durchschnittlichen monatlichen Haushaltseinkommens.

Ein Migrationshintergrund kann als ein Armutsrisikofaktor bezeichnet werden. Jede dritte türkische Familie ist, nach dem 3. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung aus dem Jahre 2008, von Armut betroffen. Generell lässt sich feststellen: Je länger die Verweildauer, desto größer der Integrationsgrad. Die Bildungs- und Berufschancen steigen, was aber nicht zwangsläufig das Armutsrisiko deutlich mindert, es aber zumindest reduziert.“

Kann Armut die Integration von Menschen mit Migrationshintergrund be- oder gar verhindern?

„Jeder von Armut betroffene Mensch ist von wichtigen Teilhabemöglichkeiten am gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen oder zumindest stark darin eingeschränkt. Menschen mit Migrationshintergrund sind somit doppelt benachteiligt, da sprachliche und kulturelle Probleme noch hinzukommen beziehungsweise eine ursächliche Rolle bei der Entstehung von Armut spielen. Wir sprechen in diesem Zusammenhang vom sogenannten ökonomischen Kapital (zum Beispiel Einkommen) sowie vom kulturellen und vom sozialen Kapital. Hier wären zum Beispiel Bildung und zwischenmenschliche Beziehungen oder soziale Unterstützung zu nennen. Von Armut betroffene Menschen zeigen in allen drei Bereichen häufig deutliche Defizite auf. Andererseits können durch das Anheben von sozialem oder kulturellem Kapital, Defizite im ökonomischen Kapital ausgeglichen beziehungsweise kompensiert werden.“

Die Arbeit der Sportvereine hat sich als Integrationsmotor erwiesen. Sehen Sie diese Kompetenz in Gefahr, wenn viele Kinder mit Migrationsgeschichte aus finanziellen Gründen nicht mehr am organisierten Sport teilhaben können?

„Die integrative Leistung von Sportvereinen für Kinder ausländischer Mitbürger ist gerade im Kontext, soziales und kulturelles Kapital zu erwerben, von immenser Wichtigkeit. Die finanzielle Situation darf nicht zu einer weiteren Benachteiligung und Ausgrenzung führen. Ich sehe darin eine sehr große Gefahr!“

Reagieren die Sportvereine ausreichend auf die Armutsentwicklung?

„Viele Sportvereine leisten seit Jahren, bewusst oder auch unbewusst, eine sehr wichtige Integrationsarbeit für ausländische und generell von Armut betroffene Kinder. Es müssen differenzierte Strategien entwickelt werden, dass dieser Prozess weiter stattfinden kann. Armut muss enttabuisiert werden. Es darf keine Schande sein, wenn ich mir keine Sportschuhe, keinen Trainingsanzug und auch kein teures Trainingslager leisten kann. Hier muss kreativ und phantasievoll nach Lösungen und solidarischen Unterstützungen gesucht werden.“

Wie kann es gelingen, so vielen Menschen wie möglich, den Zugang zum organisierten Sport zu ermöglichen?

„Dies ist eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung, d.h. jeder Einzelne ist gefragt, was er dazu beitragen kann. Es sind die Sportorganisationen gefragt, die Kommune, die politisch verantwortlichen Entscheidungsträger. Es geht um konkrete Hilfe und Unterstützung vor Ort und um die Schaffung von Rahmenbedingungen und Strukturen, die den Zugang ermöglichen. Es wäre zum Beispiel wichtig, ein „Starterpaket“, im Sinne einer Sporterstausstattung (Sportschuhe, Trainingskleidung, Sporttasche) für von Armut betroffene Kinder von der Kommune, dem Land oder dem Staat zu finanzieren. Bedürftige Kinder müssen zudem von Mitgliedbeiträgen befreit werden.“

Nehmen Menschen aus Scham oder Stolz bestimmte Hilfestellungen nicht an? Gibt es Ihrer Erfahrung nach hierbei Unterschiede zwischen den verschiedenen Kulturen?

„Scham und Stolz spielen, egal welcher Migrationshintergrund besteht, oder auch nicht besteht, eine wichtige Rolle. In unserer Gesellschaft ist Armut immer noch mit dem Stigma eines schuldhaften Versagens verbunden. Diese Diskriminierung und Stigmatisierung muss endlich überwunden werden. Jeder kann von Armut betroffen werden. Natürlich müssen hierbei auch kulturell geprägte Verhaltensweisen und Regeln noch mehr berücksichtigt und gegenseitig vermittelt werden.“

Wie sollte man mit dem Thema „Armut“ umgehen, ohne betroffene Personengruppen zu stigmatisieren?

„Armut muss enttabuisiert werden. Der Sport zeigt seit Jahren, dass Menschen die von Armut betroffen sind, durch ihr Talent, ihren Mut und ihre Ausdauer, zu Höchstleistungen fähig sind und große gesellschaftliche Anerkennung finden. Die Sichtweise auf das Thema Armut muss verändert werden und jeder kann bei sich selbst damit anfangen. Diskriminierende und diffamierende Äußerungen, häufig gerade auch von politischen Entscheidungsträgern, müssen aufgezeigt, benannt und scharf kritisiert werden.“

Wie schätzen Sie die Bedeutung des Sports für die Integration von Menschen mit Migrationshintergrund und sozial Benachteiligten ein?

„Ich sehe im Sport und speziell im Programm „Integration durch Sport“ eine zentrale Bedeutung für die gesellschaftliche Integration von sozial benachteiligten Menschen sowie von Mitbürgern mit Migrationshintergrund. Die Menschen erhalten die Chance, über den Sport eine gesellschaftliche Anerkennung zu erzielen. So können sie die eigenen Kompetenzen und Fähigkeiten selbst erfahren und weiterentwickeln. Hierdurch kann das Selbstwertgefühl, die Selbstkompetenz, gerade bei Kindern und Jugendlichen, entwickelt und stabilisiert werden, was eine elementare Erfahrung darstellt und das gesamte spätere Leben prägen kann.“