Sport als letzte Bastion der Gesellschaft

Ein Gespräch mit dem Wissenschaftsjournalisten Ranga Yogeshwar über aufdringliche Läufergruppen, die Ökonomisierung des Sports und die großen Fragen des Lebens.

Ranga Yogeshwar (Quelle: dpa)
Ranga Yogeshwar (Quelle: dpa)

Große Schrankwände mit Büchern füllen den Hintergrund, fast wie in einer Bibliothek. Es handelt sich aber nicht um einen Lesesaal, sondern um das Office von Ranga Yogeshwar im heimischen Hennef, und das ist – am Bildschirm nicht sichtbar – mehr wie ein TV-Studio hergerichtet, mit Kameras, Leuchtschirmen und anderem technischen Equipment. Die Pandemie mit ihrem Distanzgebot hat der bekannteste deutsche Wissenschaftsjournalist genutzt, um seine Büroausstattung ordentlich aufzurüsten. Beim Videogespräch wirkt er daher perfekt ausgeleuchtet und so nah, als säße er einem auf der Couch gegenüber.

Ranga Yogeshwar ist konzentriert und interessiert bei der Sache, wie man es von ihm kennt, obwohl er mit der klassischen Sportwelt eher unvertraut ist. Und so führt das Gespräch vom persönlichen Bewegungserlebnis über die gesellschaftliche Bedeutung von Sportvereinen als Nestor einer entkoppelten Gesellschaft und Vermittler zwischen divergenten Positionen bis zu den großen Fragen des Lebens. Ein origineller und hilfreicher Blick über den Tellerrand des klassischen Verständnisses von Fitness und Vereinssatzung.

Herr Yogeshwar, Sie sagen, Sie wissen nichts, haben aber meistens gute Antworten auf die Fragen, die Ihnen gestellt werden. Heute führt das Gespräch aufs Feld des Sports. Ein bekanntes oder eher unbekanntes Terrain?

Sport ist für mich ein eher unbekanntes Terrain, wenn es darum geht, wie begeistert meine Freunde am Samstag Fußball-Bundesliga schauen. Diese Sozialisierung fehlt mir. Ich bin keiner, der in diesem Event-Sportbereich mithalten kann. In Deutschland hingegen ist Fußball ja fast schon systemrelevant, wie man während der Pandemie und gerade nach dem WM-Ausscheiden der Nationalmannschaft erleben konnte.

Sie sprechen von Fußball, vom medialen Sport. Ist Sport für Sie im Alltag relevant?

Es ist die Frage, wie man es definiert. Machst du Sport, bewegst du dich? Ja, ich fahre mit dem Mountainbike durch die Gegend, im Sommer surfe ich. Im Winter bin ich auf Skiern unterwegs – halbwegs ordentlich. Aber das firmiert bei mir nicht unter der Rubrik Sport, weil Sport oft diesen Wettbewerbscharakter hat, und den Vereinsaspekt. Insofern: ein differenziertes Jein.

Ihrer Vorstellung nach ist Sport also zu sehr mit Wettbewerb und Verein assoziiert?

Ja! Die Bedeutung ist enorm, die der Sport, vor allem der medialisierte, in der Gesellschaft hat. Aber wenn man schaut, wie gut bewegen sich die Menschen, dann gerät das Bild ins Rutschen. Es gibt viele Untersuchungen bei Schulkindern, etwa in der Frage der Beweglichkeit und Motorik, und es ist atemberaubend, wie mangelhaft ihre Fähigkeiten sind. Junge Leute finden es zum Beispiel schwierig, eine Minute auf einem Bein zu stehen. Das ist zwar kein Sport, aber wichtig fürs Körpergefühl. Bei Dreharbeiten war ich mal an einer Schule. Es ging darum, ein Seil hochzuklettern. Ich, als alter Mann, kam problemlos hoch. Viele der Kinder aber sind daran gescheitert. Das liegt an unserer Welt, die zunehmend virtuell wird und am Bildschirm stattfindet.

Sie sind in unterschiedlichen Kulturen aufgewachsen, auch in Indien. Wie war es dort?

Eine Erinnerung dazu: Im Indien meiner Kindheit gab es Rikscha-Fahrer, die mit dem Fahrrad Lasten hin und her transportiert haben. Das war ihr Job. Die wären natürlich nie auf die Idee gekommen, sich am Wochenende aufs Fahrrad zu setzen, um zu schwitzen. Das machen sie ja die ganze Woche. Und auch wir haben vergessen, wie sehr unsere Eltern und Großeltern in einer Welt lebten, die viel stärker physisch betont und von harter körperlicher Arbeit geprägt war. Heute findet die Arbeit am Computer statt, und aus diesem körperlichen Defizit heraus geht man am Wochenende in die Muckibude.

Es ist also sowohl eine generationelle wie eine soziale Frage, ob und wie Menschen sich bewegen.

So würde ich es sagen. Adipositas zum Beispiel tritt bei sozial schwächer gestellten Menschen deutlich häufiger auf. Auf der anderen Seite haben wir eine Kultur, in der viele Menschen ihren bewegungs- und ereignisarmen Alltag mit Extremsport kompensieren. Da wird nicht normal Ski gefahren, das muss dann Heliskiing sein, nicht einfach um den See gelaufen, sondern mindestens ein Triathlon gemacht. Anstatt einfach mal die Treppe anstelle der Rolltreppe zu nehmen, zu Fuß zu laufen, statt mit dem Auto irgendwohin zu fahren, betreiben sie Sport in XXL-Größe, das hat eine kompensatorische Wirkung für das, was im normalen Alltag fehlt. Und natürlich ist das nicht gesund. Viele Menschen sind gar nicht dafür geeignet, bekommen Probleme mit Gelenken und Muskeln.

Waren Sie je Mitglied in einem Sportverein?

Nein.

Sport – oder Bewegung – war bei Ihnen nie mit dem Leistungsgedanken verbunden oder kompetitiv aufgeladen. Und auch kein Gemeinschaftserlebnis?

Nein. Ich bin zwar früher gelaufen, aber das Schöne war, es allein zu tun – the loneliness of the long-distance runner sozusagen. Es gab mal eine lustige Situation, in der ich eine Läufergruppe der Polizei traf und der Leiter sagte: „Oh, da laufen wir doch mit, dann bist du nicht so allein.“ Ich versuchte, sehr freundlich und höflich zu sein, und sagte: „Freunde, in meinem Fall ist es so, ich genieße die Stille, seid mir nicht böse.“ Meine Reaktion fanden sie zwar komisch, sind aber abgezogen. Außerdem bin ich zu oft unterwegs, ich schaffe es gar nicht, mich regelmäßig in einen Teamsport einzureihen.

Wie schauen Sie als Solist auf die deutsche Vereinslandschaft?

Vereine haben eine wichtige Rolle. Eine gemeinschaftsstiftende Funktion. Da gibt es ein Wir, ein Miteinander. Das Problem ist, dass die Bereitschaft, etwas in einer Community zu machen, ehrenamtlich zu arbeiten, eben deutlich abgenommen hat.

Was tun?

Vielleicht muss man das Thema anders fassen. Vereine verfahren nach einer Grammatik, die heute für viele junge Menschen eher komisch anmutet. Mit Kassenwart und Vereinssatzung. Das könnte man anders gestalten.

Bieten Sportvereine Ihrer Ansicht nach einen barrierefreien Zugang für Menschen mit Zuwanderungsgeschichte?

Das kann ich nicht beurteilen. Was ich sagen kann, ist, dass wir als Gemeinschaft vor der großen Aufgabe stehen, wie wir in einer individualisierten Welt ein „Wir“ erschaffen. Viele alte Strukturen lösen sich auf, in der Familie, der Nachbarschaft, in Vereinen, in Parteien, überall schrumpft das Engagement, die Bereitschaft, etwas für den anderen, für die Gesellschaft zu tun. Wir alle spüren, so wie früher funktioniert es einfach nicht mehr. Wir kennen aber keine probate Alternative, um es künftig anders zu organisieren. Insofern mag die alte Vereinsgrammatik nicht mehr zeitgemäß sein, aber es geht nun darum, eine neue zu entwerfen. Fürs Miteinander.

Wenn es darum geht, Zukunft zu gestalten, ist Digitalisierung dann eher eine Gefahr oder eine Chance für die Vereine?

Wichtig ist, dass sich Vereine bewusst werden, in welcher Zeit sie leben. Heute, im Jahr 2022, kommuniziert man anders als noch vor geraumer Zeit. Vielleicht ist die Mitgliederversammlung nicht mehr das Nonplusultra. Digitales Training, sich auch digital abseits der Vereinsaktivitäten zu treffen, vielleicht liegen darin Chancen, den Rahmen des Vereins größer zu ziehen. Oder ich implementiere Alternativen, rede mit Älteren darüber, wie sie mit ihren Knieproblemen umgehen, und mit Jüngeren, wie sie mit Scheitern und dem Verlieren umgehen können. Wir sehen ja, dass die Ergebnisse demokratischer Wahlen immer öfter infrage gestellt werden, etwa in den USA oder in Brasilien. Sport kann helfen, eine höhere Sensibilität für die Regeln des Fairplay zu entwickeln.

Ist Sport das letzte vielbeschworene Lagerfeuer der Gesellschaft, trotz der veralteten Grammatik?

Er hat viele wichtige Funktionen. Nehmen Sie die schwierige Flüchtlingssituation von 2015 und 2016, da war Sport Integration at its best, und viele Männer aus unterschiedlichen Regionen waren beim Fußball plötzlich ein Team. Insofern ist Sport eine der letzten Bastionen einer Gesellschaft, die sozial auseinanderzufallen droht. Das gemeinsame Sporterlebnis, auch das im Fernsehen, ist letztlich etwas, wobei man sich auch im Gespräch begegnen kann, in einer Welt, die in vielen Bereichen gesellschaftlich auseinanderbricht. Und Vereine können als Nestor einen Bereich organisieren, eine Institution sein für gemeinsame Erlebnisphasen, in einer Welt, die uns Menschen zunehmend entkoppelt. Sie können einen Dialog anwerfen, auch zwischen divergenten Positionen.

Sie sind Wissenschaftler, Zahlen haben eine große Bedeutung für Sie. Wie empfinden Sie die pausenlose Vermessung des Lebens und der Gesundheit durch Apps und Tools?

Für mich ist das Ausdruck dessen, was wir schon länger im Profisport beobachten können. Etwa im Fußball, aber nicht nur dort. Die Debatte über die Rolle des Schiedsrichters, der Videobeweis, auch andere Techniken wie Torlinienüberwachung und die unzähligen Statistiken zur Laufleistung der Spieler, dem Ballbesitz oder der Passgenauigkeit. Das ist letztlich das Überstülpen von ökonomischen Regeln über den Sport. So wie im Internet, in dem die User gnadenlos ausgespäht und analysiert werden. Das ist Ausfluss des Businessmodells, das sich über alle Bereiche des Lebens gelegt hat: Sport ist nicht mehr Sport, sondern Geschäft, und das muss berechenbarer werden.

Was geht verloren?

Der Sport lebt auch von seiner Nichteindeutigkeit, genauso wie das Leben nicht nur eins oder null ist. Ist der Handballer im Kreis übergetreten, oder war der Stümer beim Fußball im Abseits? Solche Situationen sind Kommunikationsanlässe, sie führen Menschen zusammen, lassen etwas entstehen, schaffen eine emotionale Verbindung, die über den Sportplatz hinausreicht. Auch beim Laufen ist es oft so, dass die Sportler gar nicht mehr gegeneinander antreten, sondern gegen die Zeit rennen. Das ist das Herausreißen aus dem menschlichen Kontext, in einen, der abstrakt ist, aus Zahlen und Maschinen besteht. Es sind die Gesetze der Ökonomie, die die Gesetze des Menschen okkupieren.

Welche Rolle spielt Spiritualität in Ihrem Leben?  

Ich komme noch mal auf die Apps zurück, denn sie stehen in meinen Augen einem umfassenderen Verständnis von Leben entgegen. Dadurch, dass die Apps uns sagen, wie wir uns angeblich fühlen, geben wir das Wichtigste ab, nämlich das eigene Körpergefühl. Das ist wie bei einem Arzt, der nur auf die Blutwerte schaut, aber nicht mehr auf den Patienten. Blutwerte können von Mensch zu Mensch sehr variieren, eine Kategorisierung bildet meine Befindlichkeit unter Umständen gar nicht mehr ab.

Mit welchen Konsequenzen?

Dieser Trend wird in den nächsten Jahren wohl stärker werden, weil viele Krankenversicherungen zu dem übergehen, was man Behavioural Policy Pricing nennt. Gib mir deine Bewegungsdaten und ich gebe dir Rabatt. In der gedanklichen Konsequenz wird das dazu führen, dass Menschen sich nicht mehr aus einem inneren Antrieb heraus bewegen werden, sondern nur, damit der Tarif nicht steigt. Das wird ein großer Verlust an Eigenleben sein.

Ist die geistig-moralische Überhöhung des Sporttreibens als Motor für ein gesundes, ewiges, junges Leben auch Ausdruck für die Schwierigkeit, die moderne Gesellschaften mit der Endlichkeit des Lebens haben?

In gewisser Weise schon. Das Schwerste, womit sich Mediziner und Wissenschaftler auseinandersetzen, ist die Vergänglichkeit, der Tod. Vergänglichkeit wird fast als Schuld gesehen. Überspitzt formuliert: Wenn du stirbst, liegt es an dir selber. Es gibt dazu ein gutes Buch, Being Mortal (Sterblich sein, Anm. die Redaktion) von Atul Gawande. Er lehrt an der Havard Medical School, und er beschreibt die Prozesse des Altwerdens. Ein Kapitel heißt „Things Fall Apart“; darin beschreibt er anschaulich, wie wir im Alter langsam körperlich und geistig auseinanderfallen. Das ist sehr interessant, aber auch hart anzunehmen, diese einsetzende Gebrechlichkeit, diese Endlichkeit. Und doch können wir den Prozess nicht verhindern, man kann ihn höchstens und im besten Fall mit Sport ein bisschen verlangsamen. Aber nicht aufhalten.

Was hilft Ihnen dabei, die Endlichkeit anzunehmen?

Oh, oh, oh (lacht). Das geht Schritt für Schritt. Es geht darum, zu akzeptieren, dass es für bestimmte Aktivitäten eben auch bestimmte Lebensphasen gibt, dass man manche Sachen in einem Alter gut machen kann und in anderen weniger gut – oder gar nicht mehr. Es ist ein Annehmen des Lebens. Ich bin in meiner Jugend mal ein Jahr durch den Himalaya gelaufen, da war ich sehr fit. Das bin ich heute absolut nicht mehr. Das kann ich annehmen, weil der Ranga heute ein anderer ist als der vor 40 Jahren. Dafür gibt es andere Sachen, die ich besser kann: Heute bin ich sicher viel gelassener als früher.

Sind Sie noch zuversichtlich?

Ja, das ist die hohe Kunst. Sich die Lebensfreude und das Interesse zu bewahren, wissend, dass wir endlich sind. Ich bin jetzt 63 Jahre alt, und wenn ich mal einfach annehme, dass ich 83 werde, dann habe ich noch zwanzig Sommer vor mir. Ich kann also dasitzen, zählen, heulen und sagen, wieder einer weniger, oder versuchen, mich einfach an jedem Sommer, der noch kommt, zu erfreuen. Es klingt abgedroschen, aber es geht darum, den Moment zu fassen.

Klingt vor allem sehr rational …

Das ist es. Das ist Bewusstseinsarbeit. Im Moment bekomme ich noch große Aufmerksamkeit von der Außenwelt geschenkt. Aber dieser Zustand ist endlich. Ich lerne loszulassen, denn irgendwann kommen die anderen und übernehmen auch meinen Part. Dieser Wandel ist wunderbar. Ich freue mich auf die Bedeutungslosigkeit.

Bei welcher Tätigkeit erleben Sie das größte Glück, die größte Zufriedenheit?

… es ist interessant, wie Sie die Frage stellen. Ich glaube, dass es eher eine Grundhaltung ist, die sich auf verschiedene Tätigkeiten überträgt, nicht umgekehrt. Ich kann jetzt genauso Glück empfinden in dem, was wir beide machen, wenn ich mich darauf einlasse – auf den Austausch zweier Erwachsenen über tiefe Lebensfragen. Und das geht mir auch bei anderen Tätigkeiten so. Es geht um die Frage, wie meine Perspektive im Alltag ist. Diesen Alltag anzunehmen, kann viel Zufriedenheit schaffen. Und manchmal sogar Glück.

Interview: Marcus Meyer

Der Großmeister des Alltags

Das Leben von Ranga Yogeshwar ist eines zwischen den Kulturen und den Grenzen der Physik. 1959 in Luxemburg geboren, erlebte der Sohn einer luxemburgischen Künstlerin und eines indischen Ingenieurs seine ersten Kindheitsjahre in Indien. Er studierte später in Aachen experimentelle Physik, arbeitete am Schweizer Institut für Nuklearforschung, am berühmten CERN in Genf und am Forschungszentrum in Jülich. In den 1980er- und 90er-Jahren erlangte er als TV-Wissenschaftsjournalist in verschiedenen Sendungen (u. a. W wie Wissen, Wissen vor acht und Quarks & Co) große Bekanntheit. Seit vielen Jahren ist der vierfache Vater freiberuflich unterwegs, zudem ist er vielfach engagiert in der Geflüchtetenhilfe. 

 


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