Bei der Unterstützung der Geflüchteten steht der Sport wie 2016 wieder im Fokus. Wie gehen Vereine und Verantwortliche mit der Herausforderung um, was ist anders als damals? Ein Streifzug durch Deutschland mit Blick auf drei unterschiedliche Beispiele.
Artur Rimmer kann sich noch sehr gut erinnern, wie er damals gemeinsam mit seinen Eltern aus Lettland nach Deutschland kam, dass es der 2. Juni 1991 war. Das mag zum einen daran liegen, dass der 45-Jährige seine Lebensgeschichte schon oft erzählt hat, vor allem aber hat es mit einem Erlebnis direkt nach der Ankunft zu tun, das sein Verständnis vom Sport als Motor der Integration geformt hat: „Ich glaube, dass Sport das absolut beste Instrument ist, um Menschen bei der Ankunft in einer neuen Gesellschaft zu helfen.“
Gerade zwei Wochen lebten sie damals im neuen Land, sprachen kein Wort Deutsch, als der Vater im baden-württembergischen Sinsheim zur Stadtverwaltung ging und für seinen 14-jährigen Sohn nach einem Ringerverein fragte. Sie hatten Glück, trafen auf einen freundlichen und verständigen Beamten, der den richtigen Kollegen kannte, einen Ringer, so ging alles sehr flott. „Freitags haben wir nachgefragt, am darauffolgenden Montag habe ich im Verein trainiert, beim KSV Östringen. Ich war ganz gut, sie brauchten jemanden, so war ich gleich im Team und wurde zu allen Lehrgängen mitgenommen. Es war für mich das große Glück, derart schnell und ohne Vorbehalte in die Mannschaft aufgenommen worden zu sein“, sagt Artur Rimmer. „Durch diese Erfahrung bin ich wohl auch so ein überzeugter Vereinsmensch geworden.“
Ironie des Schicksals
Durch den Ukrainekrieg sieht Artur Rimmer sich nun mit seiner eigenen Geschichte konfrontiert, und sie spiegelt sich auch im Bundesprogramm wider: Er zählt zu den rund zwei Millionen Russlanddeutschen, die von Mitte der 1980er-Jahre bis um die Jahrtausendwende aus dem politisch zerfallenden Vielvölkerstaat Sowjetunion nach Deutschland kamen. Ihretwegen wurde 1989 das Projekt „Sport für alle – Sport mit Aussiedlern“ ins Leben gerufen (siehe die bewegende Geschichte aus der Zeit, als „Integration durch Sport“ laufen lernte, IdS-Sondermagazin 2016, Seite 51 ff.), der Vorläufer des Bundesprogramms „Integration durch Sport“. Rund 30 Jahre später stellt sich die Situation nun so dar: In einem Stützpunktverein des Bundesprogramms trainiert der Russlanddeutsche Rimmer Ukrainer*innen, die vor einem Krieg geflohen sind, den Russland zu verantworten hat.
Die deutsche Ringergemeinde ist übersichtlich, man kennt sich, hilft sich untereinander, Anfragen werden unkompliziert und schnell über Chatgruppen vermittelt. „Der Verband hat super reagiert, Kontakte in die Ukraine geknüpft und Informationen weitergegeben. Denn wenn man Pech hat und in Niedersachsen landet, kann es schon sein, dass es im Umkreis von 100 Kilometern gar keinen passenden Verein gibt“, sagt Rimmer. Keine Frage: Das Epizentrum des deutschen Ringens liegt eindeutig im Süden. So kamen auch die ukrainischen Kinder und Jugendlichen, deren Flucht zunächst in Berlin endete, zum TSG Hassloch in die pfälzische Provinz. Sechs von ihnen versucht der Vereinsmensch Rimmer nun nicht nur die richtigen Hebel und Griffe beizubringen, sondern im Kleinen ein bisschen von dem zu ersetzen, was im Großen verloren gegangen ist: die Heimat.
Professionalisierte Hilfe
Hilfe leistet der Sport in allen Bundesländern, wenngleich nicht immer so persönlich gefärbt wie beim Vereinsmenschen Artur Rimmer. Stellvertretend fürs große Engagement stehen die Zahlen, von denen Benjamin Bellatreche, Leiter des Bundesprogramms „Integration durch Sport“ beim Bayerischen Landessportverband, zu berichten weiß: „Das vergangene Jahr war ein Rekordjahr. Wir haben die Finanzmittel für Geflüchtete im Rahmen des bayerischen Projektes, Sport schafft Heimat‘ komplett verausgabt. Die Anfragen bezogen sich zu 95 Prozent auf Menschen, die aus der Ukraine kommen“, sagt er. Etwa 200 Vereine haben Fördermittel erhalten, die auch aus aus der finanziellen Aufstockung des Bundesprogramms gespeist waren; mehr als die Hälfte davon Stützpunktvereine von „Integration durch Sport“, aktuelle wie ehemalige.
Bellatreche sieht das Engagement der Vereine durchaus vergleichbar mit dem von 2016. Auch die Fragen an den Verband gleichen sich: Sportbekleidung, Versicherungsschutz und Rechtsberatung sind die dringlichsten Themen. Darüber hinaus sei aber ein Fundament und eine große Professionalität bei den Verantwortlichen erwachsen, insbesondere bei Vereinen des Bundesprogramms und denen von „Sport schafft Heimat“. Bellatreche ordnet das Engagement in einem größeren Zusammenhang ein: „Vor dem Hintergrund, dass viele Vereine mit den Folgen der Pandemie und den erhöhten Energiepreisen zu kämpfen haben und an der Existenz kratzen, finde ich diesen Einsatz umso erstaunlicher.“ Zudem sei die Planungssicherheit der Vereine geringer. 2016 hätte man trotz aller Analogien in der Regel besser gewusst, wie lange die Menschen in der Stadt und im Verein bleiben, während die Fluktuation bei den ukrainischen Geflüchteten deutlich höher sei, weil viele zu Verwandten in anderen Regionen Deutschlands gezogen oder wieder in ihre Heimat zurückgekehrt seien.
Wegweiserin in der Tiefebene
Szenenwechsel: vom tiefen Süden in den hohen Norden, nach Schleswig-Holstein. Wir sprechen mit Maike Setter. Die 41-Jährige ist im Bereich Rendsburg-Eckernförde als Integrationslotsin für den Gettorfer SC (GSC) tätig. Sie dürfte der Bayer Benjamin Bellatreche meinen, wenn er vom Fundament und der Professionalität in den Vereinen spricht. Maike Setter gehört zu dem Typ Mensch, ohne den Deutschland als Gemeinwesen schon längst auseinandergefallen wäre: sozial engagiert, vorurteilsfrei, zupackend und reflektiert.
Nach ihrem Lotsenjob beim Sportverein befragt, zögert sie ein wenig, beschreibt ihn dann so: „Ich bin Wegbegleiterin bei der Integration von Migranten und Geflüchteten, aber auch Vermittlerin in den Sportverein, was Vielfalt und interkulturelle Kompetenz anbelangt. Zugleich helfe ich, zwischen dem ländlich Altbewährten und den neuen Kulturen auszugleichen.“ Im letzten Satz schwingen versteckt Maike Setters Erfahrungen mit, als sie bei ihrem Umzug aufs Land selbst als Zugezogene behandelt wurde. Setter stammt aus dem 30 Kilometer entfernten Kiel.
2021 hat sie ihren Minijob als Integrationslotsin angetreten, anschließend entstand das Beratungsprojekt beim Gettorfer SC. Was das umfasst? Jobs vermitteln, die Menschen zu Ärzten bzw. Ärztinnen, zum Jobcenter und zum Probetraining begleiten, ihnen bei der Wohnungssuche helfen und bei der Wohnungsbesichtigung dabei sein. „Alles, was die Gemeinde nicht schafft“, sagt Setter. „Ich habe eine Sprechstunde, zweimal die Woche, die lief lange Zeit zu Hause, weil kein offizielles Büro zur Verfügung stand. Bis immer öfter Hilfesuchende auch zu anderen Zeiten an der Haustür klingelten. Da war dann irgendwann eine private Grenze überschritten.“
120 Personen aus der Ukraine betreut Setter, 40 von ihnen, vor allem Kinder und Jugendliche, hat sie im Sport untergebracht, etwa beim Boxen oder im Fitnessstudio. „Fußball bei den Lütten geht immer, Reiten ist bei den Mädchen hoch im Kurs, aber schwer umzusetzen, weil es über Reitbeteiligungen läuft und sehr teuer ist.“ Und die Frauen? „In der Notunterkunft war Sport eine tolle Sache, um den Kopf freizukriegen, aber sobald die Frauen ins Leben eintauchen, haben sie andere Sorgen und keine Zeit mehr.“ 95 Prozent der Frauen hätten bereits einen Minijob, besuchten freiwillig Integrationskurse, bezahlten Sprachkurse bei der VHS, weil sie im Jobcenter keinen bekommen haben. „Sie wollen so schnell wie möglich eigenständig sein und arbeiten. Und sie können es auch. Das ist anders als 2016“, sagt Maike Setter. „Die Syrer hatten es da schwerer.“
Vereinsbeitrag zur Integration
Der Gettorfer SC hat sich mit dem größten Verein der Gegend, dem Gettorfer Turnverein (GTV), zusammengetan, um sein beschränktes Angebot mit Fußball, Handball und Schießen für die Geflüchteten um weitere Sportarten zu erweitern. Nach anderthalb Jahren Vorlauf ist es dem GSC zudem gelungen, einen Schwimmkurs für Frauen aufzuziehen – der den eigenen Mitgliedern zwar nicht offensteht, den er aber mit mehr als 600 Euro Kostenzuschuss unterstützt. Der Vorstand sieht das als Beitrag zur Integration und zur sportlichen Förderung von Frauen.
Bislang kam der Verein auf einen Migrantenanteil von fünf Prozent. Dass sie seit Kurzem einen syrischen Übungsleiter haben und demnächst vier ukrainische Frauen im Tandem mit einer deutschen Partnerin eine Trainerlizenz erwerben sollen, verbuchen sie im Verein als Erfolg: Es tut sich was in Sachen Vielfalt.
Was Maike Setter stört? „Das Sportlotsenprojekt wird nur von Jahr zu Jahr bewilligt, dadurch verschenken wir Anfang des Jahres immer viel Zeit, weil der Verein auf die Gelder warten muss.“ Und dass Unterstützung der Behörden fehle, sie nicht erkennen würden, welchen Mehrwert die Arbeit der Ehrenamtlichen bedeutet – die sich letztlich auch positiv in den Unterkünften auswirke.
Man spricht miteinander
270 Kilometer weiter südlich, in Hannover, hat Celina Scheffler dem geflügelten Satz „Sport spricht alle Sprachen“ eine neue Bedeutung gegeben. Die quirlige Sozialpädagogin arbeitet am Institut für Sprachen und Kommunikation (ISK), mit 1.500 Teilnehmenden pro Jahr eine der größten Sprachenschulen in der niedersächsischen Hauptstadt. Da Niedersachsen neben Bayern, Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen zu den Bundesländern zählt, die die meisten Geflüchteten aufgenommen haben, findet auch die Bildungsarbeit des ISK zurzeit in der Mehrzahl mit Ukrainer*innen statt.
Nun hat Celina Scheffler ein Pilotprojekt in Gang gesetzt, bei dem das ISK seine Teilnehmenden an Sportvereine vermittelt. „Dass Sportangebote den Kontakt untereinander und den Spracherwerb fördern, haben wir an der Akademie schon vor der Pandemie erkannt“, sagt Celina Scheffler. „Weil die Corona-Unterbrechung beides erheblich verschlechtert hat, rückte für uns das Sportthema stärker in den Vordergrund.“ Als die 28-Jährige auf einer Veranstaltung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) im vergangenen Jahr zufällig vom Bundesprogramm „Integration durch Sport“ erfuhr, war die Projektidee geboren. Sie nahm Kontakt mit der Programmleitung beim Landessportbund Niedersachsen (LSB Niedersachsen) auf und stieß sofort auf Gegenliebe.
Seit Mitte 2022 finanziert „Integration durch Sport“ einen Sportintegrationslotsen am ISK: Illia Povalii. Der Ukrainer ist selbst Anfang 2022 vor dem Krieg in seinem Land geflüchtet. Nun besucht er einen Integrationskurs am ISK, ermittelt das Interesse bei den anderen Teilnehmenden und vermittelt die Menschen an die entsprechenden Sportangebote und Vereine. Die Idee scheint zu zünden, alle sind begeistert. Das ISK, die Vereine, der LSB. „Frau Scheffler ist sehr aktiv, ist selbst dabei, einen Sportverein zu gründen, ihre Energie und das Projekt haben auch uns überzeugt. Es hat für uns Modellcharakter“, sagt Robert Gräfe, Leiter des Bundesprogramms „Integration durch Sport“ beim LSB Niedersachen. Sport spricht eben alle Sprachen, auch die einer Sprachenschule.
(Autor: Marcus Meyer)