Strapazierte Liebe

Solidarisch und weltoffen: Der Gründer des Erfurter Stützpunktvereins „Spirit of Football“, Andrew Aris im Porträt.

Großer Moment für den Verein, fürs Projekt und für ihn selbst: Andrew Aris auf der UN-Klimakonferenz in Glasgow im November 2021. Foto: „Spirit of Football“
Großer Moment für den Verein, fürs Projekt und für ihn selbst: Andrew Aris auf der UN-Klimakonferenz in Glasgow im November 2021. Foto: „Spirit of Football“

Wenn ein kleiner Sportverein aus Erfurt mit 40 Mitgliedern auf einer UN-Klimakonferenz mit rund 40.000 Teilnehmer*innen auftreten darf, dann sollte man mal genauer schauen, was es damit auf sich hat. Begegnung mit dem Gründer von „Spirit of Football“, Andrew Aris, einem Menschen, für den die Welt selbstverständlich schon immer rund war.

Wer kennt sie nicht, die Lebensgeschichten, die damit beginnen, dass der Vater seinen kleinen Sohn zu den Spielen seines Fußballvereins mitnahm. Anekdoten, die zum Fußballkanon gehören, von bedingungsloser Liebe und Treue einem Klub gegenüber handeln, und von dem einen Moment oder dem Ritual im Stadion erzählen, die das Kind fürs Leben prägten. Sogar in die Literatur haben es diese Mensch-Vereins-Symbiosen geschafft, als eigenes Genre. Eines der populärsten Werke hat der englische Schriftsteller Nick Hornby verfasst: „Fever Pitch“.  

Andrew Aris hat so eine fußballgeprägte Welterfahrung in seiner Kindheit gemacht. Allerdings beginnt sie nicht bei Arsenal London, dem Herzensklub des Schriftstellers Nick Hornby, sondern bei den Glasgow Rangers, dem Heimatverein von Andrew Aris schottischem Vater. Und sie zehrt auch nicht vom gemeinsamen Stadionerlebnis von Vater und Sohn. Als Andrew Aris geboren wurde, lebte die Familie bereits in Neuseeland. Seine Vereinsliebe wuchs weltumspannend – und noch ganz ohne Internet und Streamingdienste – vor allem durch das TV-Erlebnis: „Mein Vater hat mich zum Fußball und zum Klub geführt. Seit ich denken kann, habe ich mit ihm den schottischen FA Cup (Pokalwettbewerb, Anm. die Redaktion) verfolgt.“

Auch hat das, was Andrew Aris kennenlernte, nichts mit dem zu tun, was Woche für Woche in vielen Fußballstadien zu beobachten ist; dass Vielfalt und Faszination des Fußballs auf Diskriminierung und Rassismus von den Rängen prallen. „Ich war fünf Jahre alt, als sich Neuseeland 1982 das erste Mal für die WM qualifizierte. Ich erinnere mich, dass wir in der Küche eine Weltkarte mit den Flaggen der damals 24 WM-Teilnehmer hängen hatten. Fußball war für mich Internationalität, die Welt zu Gast bei uns zuhause. So hat es sich angefühlt. Das hat sich mir eingebrannt“, sagt er.

Zweites Erweckungserlebnis

Bei der WM in Japan und Südkorea 2002 erlebte der neuseeländische U20-Jugendnationalspieler dann persönlich, was dem Knirps vorher nur die Landkarte in der Küche vermittelt hatte: Wie es sich anfühlt, über ein Sportevent Teil von etwas Größerem zu werden – und wie Passion und Pflicht miteinander verschmelzen können. Die Schlüsselszenen lieferte das Viertelfinale Südkoreas gegen Spanien, das der Co-Gastgeber überraschend im Elfmeterschießen gewann. Zum einen durch den dramatischen Spielverlauf, zum anderen durch Millionen von Menschen, die in Seoul das Spiel beim Public-Viewing verfolgten, nach dem Sieg auf den Straßen tanzten, völlig aus dem Häuschen waren – und hinterher gemeinsam den Müll wegräumten. „Das war unfassbar“, sagt er.

Von diesem berauschenden Gefühl wollte er mehr. Eine kurze Recherche offenbarte ihm den nächsten WM-Ausrichter: Deutschland. Das Land, das ihn, den Geschichtsversessenen, auch wegen seiner dunklen NS-Vergangenheit interessierte. Schon während des Studiums in den USA hatte Andrew Aris Kurse über Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert belegt und Stapel von Büchern über den Holocaust gelesen. Während die meisten Studierenden aus dem Ausland nach Berlin pilgerten, zog es Aris nach Erfurt. Weniger Ablenkung, noch mehr Ost-West-Geschichte, hoffte er.

Bildung statt Bolzen

Während des Studiums in Erfurt (Public Policy) veränderte sich sein Blick auf den Fußball. Er begann das Spiel mehr als Bildungsgeschichte und Kulturvermittlung zu verstehen, weniger als Sport. „Ganz so, wie mir mein Vater die Welt vorgestellt hatte.“ Weltoffen, gegen Ausgrenzung, für eine nachhaltige Lebensform, dafür sollte der Fußball stehen. 2005 gründete Andrew Aris mit ein paar Freunden zusammen den Verein „Spirit of Football“. Als er kurz darauf durch Zufall feststellt, dass es ein ähnliches Projekt schon in England gibt, nimmt er Kontakt zu dessen Gründern Phil Wake und Christian Wach auf. Sie lernen sich kennen und finden sich auf Anhieb sympathisch. „Seitdem arbeiten wir zusammen.“

Das Leuchtturmprojekt der Engländer, „The Ball – Ein Ball – Eine Welt“, ist eine Art Olympischer Fackellauf auf den Fußball übertragen. Ein Ball wird von London, vom Battersea Park aus, in dem 1864 das erste Fußballspiel nach modernen Regeln ausgetragen worden sein soll, zum jeweiligen Gastgeber der Fußball-WM auf den Weg geschickt. Das Ziel der beiden Initiatoren: Über den Fußball Menschen miteinander in Kontakt zu bringen, ob „Staatspräsidenten oder Straßenkinder“.  

Während „The Ball“ 2002 und 2006 zur WM in Deutschland noch als Replikat des Adidas-Balls durch die Welt reiste, stammten die folgenden Exemplare aus Sozialprojekten, von Non-Profit-Organisationen und Fairtrade-Labels. Für die Frauen-WM 2023 in Australien und Neuseeland kooperiert „Spirit of Football“ mit der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) im südpazifischen Raum, der besonders vom Klimawandel bedroht ist. Was im Pazifik passiere, betreffe wegen seiner Größe letztlich die ganze Welt, sagt Andrew Aris. „Die Spiele auf den Salomon-Inseln fanden früher auf Rasen statt, heute werden viele auf Sand ausgetragen.“ Das Meerwasser hat das Grün zerstört.

Erfolg der Nervensäge

Auch für die Frauen-WM nächstes Jahr wird es eine Auftaktveranstaltung in London geben. Aber dann wird der Ball per Post verschickt und sich auf seinem Weg vervielfachen, was die Reichweite der Aktion, und die der Botschaften erhöhen soll. Inhaltliche Substanz liefern die begleitenden Bildungsprogramme, die sich an den 17 UN-Nachhaltigkeitszielen orientieren. In der Türkei kooperiert „Spirit of Football“ mit der Friedrich-Ebert-Stiftung, Gespräche mit dem Istanbuler Bürgermeister, der schon zur WM 2018 dabei war, und dem Fußballklub Besiktas laufen.    

Dass es mit dem Auftritt auf der UN-Klimakonferenz (COP) im November vergangenen Jahres in Glasgow geklappt hat, ist vor allen einem Mann zu verdanken: Richard Hamilton. Der humanitäre Direktor im Netzwerk „Spirit of Football“ ist wie die anderen Projektinitiatoren ein Fußballverrückter, sehr hartnäckig und mit guten Kontakten ausgestattet. „Er hat Sozialprojekte auf der ganzen Welt initiiert, sei es im Libanon, Somalia, Jordanien oder Bangladesh – überall, wo es Konflikte gibt, ist er dabei. Und immer mit einem Ball. Richard kennt so viele Menschen, und wenn er was will, kriegt er es“, sagt Andrew Aris und fügt lächelnd an: „Er ist denen so lange auf die Nerven gegangen, bis sie uns eingeladen haben.“

Prominenter Botschafter

“Spirit of Football” ist Teil des “Common-Goal“-Netzwerks, das sich der Diversität und Nachhaltigkeit im Fußball verschrieben hat. Prominente Kicker- und Trainer-unterstützen die Initiative mit einem Prozent ihres Jahresgehaltes, darunter der italienische Verteidiger Giorgio Chiellini sowie die Deutschen Serge Gnabry, Timo Werner, Julian Nagelsmann und Jürgen Klopp. Der Liverpooler Trainer Klopp ist seit 2014 zudem Fairplay-Botschafter von „Spirit of Football“.    

Aris ist sich bewusst, dass Initiativen wie „Spirit of Football“ oder „Common-Goal“ als Feigenblatt des Profifußballs wirken können. Sein Interesse, sagt er, gelte eigentlich immer mehr dem, was den Fußball in seiner Alltagsform ausmache: Das Spiel, sich treffen, anschließend gemeinsam grillen, die Freundschaften, die entstehen. „Ins Stadion zu gehen, habe ich gar keine Lust mehr.“ Entsprechend schwer tut er sich mit einer Haltung zur Männer-WM Ende 2022 in Katar. Nicht allein wegen der Menschenrechts-, auch wegen der Nachhaltigkeitsfragen. „Ist doch klar: Wenn acht neue Stadien in die Wüste gestellt werden, anschließend abgebaut und woanders hin transportiert und wieder aufgebaut werden sollen. Was soll daran nachhaltig sein? Das ist Unsinn!“

Wenn Andrew Aris über Fußball spricht, meint er mittlerweile vor allem das Bildungspotenzial, das der Sport besitzt. Fußball gehöre zu den wenigen Kulturbereichen, die noch in der Lage seien, eine sich in Interessengruppen zersplitternde Gesellschaft zu erreichen und eine nachhaltigere und gerechtere Zukunft zu gestalten. „Ich sehe die Leidenschaft, mit der der Sport so viele Menschen bewegt. Auf diese positiven Aspekte konzentrieren wir uns im Verein.“ 

Besonderer Zugang

Spirit of Football e.V., das sind vor allem Breitensportler und Fans. Und manchmal nicht mal das. Die Hälfte der Leute, die zu ihnen käme, sagt Andrew Aris, habe mit Fußball nichts am Hut, möge ihn nicht mal besonders. Der Vorteil: Sie kämen mit Kindern und Jugendlichen in Kontakt, die sonst Abneigungen gegen diesen Sport hegen, sich durch das Vereinswesen ausgeschlossen fühlen, oder durchs Raster der klassischen Förderung fallen. Ein integrativer Ansatz par excellence, der auch durch das Bundesprogramm „Integration durch Sport“ gefördert wird. Sei es bei einem Nachhaltigkeitsschulprojekt in Sachsen-Anhalt, einer Kooperation zum Thema Integration mit dem Auswärtigen Amt im Azraq Refugee Camp in Jordanien, oder im Rahmen der Aktion „No one left behind“ auf der griechischen Insel Lesbos.

Letztes Jahr gab es besondere Anerkennung: Im Rahmen des Festjahres „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ wurden „Spirit of Football“ und der Erinnerungsort „Topf & Söhne“ von der DFB-Kulturstiftung für das gemeinsame Bildungsprojekt „Fairplay?! Damals, heute, auf dem Platz und im Alltag“ mit dem Julius Hirsch Preis ausgezeichnet. Topf & Söhne, das waren die Ofenbauer von Auschwitz, der Ort, an dem der jüdische Fußballnationalspieler Julius Hirsch von den Nazis umgebracht worden war. Es war ein Projekt, in dem sich zwei Aspekte berührten: Die kulturelle Kraft des Fußballs und Andrew Aris Versuch zu begreifen, wie das Unbegreifliche passieren konnte.

Zurück an den Anfang

Den viertägigen Kurztrip nach Glasgow erlebte Andrew Aris wie in einem Tunnel: „Ich kann nicht beurteilen, wie der UN-Gipfel politisch war. Ich habe zu wenig mitbekommen, um tiefere Einblicke zu gewinnen. Aber für unser Projekt war der Auftritt großartig. Unser Netzwerk ist gewachsen, wir haben nun Kontakte zur UN, sind für die ein vertrauenswürdiger Partner“, sagt Aris. Die Einladung für den nächsten Gipfel im Herbst 2022 im ägyptischen Sharm El-Sheikh sei schon ausgesprochen.

Persönlich schloss sich für den 44-jährigen auf dieser Reise ein Kreis. Glasgow, das bedeutete nämlich die Rückkehr in die Heimatstadt seines kurz zuvor verstorbenen Vaters. Eine Reise an den Ursprung seiner Fußballliebe, und eine bewegende Erinnerung an die eigene Kindheit und die verlorengegangene Unschuld des Sports. Für Andrew Aris war es, als berührten sich bei diesem Besuch momenthaft Anfang und Ende zweier Leben.

(Text: Marcus Meyer)


  • Großer Moment für den Verein, fürs Projekt und für ihn selbst: Andrew Aris auf der UN-Klimakonferenz in Glasgow im November 2021. Foto: „Spirit of Football“
    Großer Moment für den Verein, fürs Projekt und für ihn selbst: Andrew Aris auf der UN-Klimakonferenz in Glasgow im November 2021. Foto: „Spirit of Football“