Dass die beliebten boxenden Brüder Vitali und Wladimir Klitschko neben Welt- und Europameistertiteln auch jeweils einen Doktortitel erworben haben, wurde in Deutschland mit Ver- und Bewunderung aufgenommen. Im alten Griechenland war es jedoch keine Besonderheit, wenn berühmte Sportler hochgebildet waren, und erfolgreiche Athleten bekleideten oft verantwortungsvolle politische Ämter.
Noch in der Renaissance wurde unter dem Einfluss klassischer humanistischer Ideale wie Ganzheitlichkeit und Harmonie großer Wert darauf gelegt, Körper und Geist nicht nur differenziert, sondern auch in Einklang miteinander auszubilden.
Die Frage nach dem richtigen Verhältnis zwischen körperlicher und geistiger Bildung hat auch in der heutigen Zeit nicht an Bedeutung verloren, strahlt in die verschiedensten Lebensbereiche aus und wird somit zu einer Sinnfrage der Integration durch Sport.
Seit Beginn der industriellen Revolution im späten 17. Jahrhundert in England verschob sich die Betonung bei der sportlichen Betätigung eindeutig von "Maß" im Sinne von Gleichgewicht, Proportion zu "Messung" .
Leitmotive der industriellen Gesellschaft wie Wettkampf, Konkurrenz, Rekord, Disziplin und Leistung wurden auch auf den Sport übertragen. Die sportlichen Großveranstaltungen seit Mitte des 20. Jahrhunderts zeigen, dass diese Merkmale heute eine extreme Ausbildung erreicht haben.
Die olympischen Spiele etwa lassen sich betrachten als eine endlose Jagd nach Siegen und Rekorden, als Feste des Konsums und der "Mensch-Maschine".
Der Sport kann dem Menschen jedoch viel mehr geben. In den letzten Jahrzehnten hat aufgrund des gesellschaftlichen Wandels im Sport eine Pluralisierung der Werte stattgefunden, und es gewannen beim Sporttreiben neben "klassischen" Werten der modernen Gesellschaft wie Wettbewerb, Vergnügen, Geselligkeit "neue" Werte wie Gesundheit, Fitness, Wohlbefinden, Schönheit, Abenteuer, Naturverbundenheit und Sinnstiftung immer mehr an Bedeutung.
Die Integration durch Sport muss sich mit diesen Erscheinungen auseinandersetzen, um den Menschen die Eingliederung in eine werteveränderte Gesellschaft zu ermöglichen. Dazu müssen klassische und auch moderne Formen des Sporttreibens vor dem Hintergrund folgender Fragen kritisch beleuchtet werden:
1. Welche Werte, Einstellungen oder Fähigkeiten sind hinsichtlich einer erfolgreichen Integration in unsere werteveränderte Gesellschaft des 21. Jahrhunderts anstrebenswert?
2. Was können neuere Formen des Sporttreibens für die soziale Integration leisten?
3. Sind "klassische" Formen des Sporttreibens auch in Zukunft noch geeignete Wege zur Integration in die Gesellschaft ?
Zu 1. Welche Werte, Einstellungen oder Fähigkeiten sind hinsichtlich einer erfolgreichen Integration in unsere werteveränderte Gesellschaft des 21. Jahrhunderts anstrebenswert?
In vielen Bereichen des Arbeits- und sozialen Lebens werden heute Flexibilität und selbständiges Handeln und Denken in sehr viel höherem Maße erwartet, als dies früher der Fall war. Soziale, kommunikative und sprachliche Kompetenzen werden relativ unabhängig von Geschlecht und Ausbildung immer bedeutender, und es besteht ein breiter Konsens darüber, dass Integration mit der Sprache beginnt und eine gute Allgemeinbildung für alle anstrebenswert ist.
Auch wenn der einseitige Spezialist und die "Mensch-Maschine" heute im Sport, in Kunst, Wissenschaft und Medien- und Computerwelt teils noch frenetisch gefeiert werden, sind sie doch zumindest als Vorbilder für die Allgemeinheit definitiv Modelle von gestern.
Zu 2. Was können neuere Formen des Sporttreibens für die soziale Integration leisten?
Zunächst einmal kann man mit "neueren" Sportarten (z.B. Trendsportarten wie etwa Skating, Mountainbiking, Hip-Hop-Tanz, Capoeira oder auch Mischformen aus körperlicher Betätigung und fernöstlicher Philosophie wie etwa Power-Yoga oder Thai-Chi) Personen erreichen, die durch traditionelle Sportarten weniger gut erreichbar sind.
Weiterhin sind die Grenzen zwischen dem Sporttreiben und anderen Lebensbereichen bei den neueren Sportarten eher fließend, der Sport wird tendenziell eher in den Alltag eingebaut, als dass er eine abgeschlossene Welt für sich ist. Dies ist unter anderem auch der sprachlichen Kommunikation sowie anderen kommunikativen und sozialen Kompetenzen förderlich.
Zu Hip-Hop als prägender Jugendkultur gehört beispielsweise nicht nur das Tanzen, sondern auch die Musik, die Mode und nicht zuletzt eine spezielle Form, miteinander umzugehen und zu sprechen. Modernes Sporttreiben zeichnet sich auch oft dadurch aus, dass man als Sporttreibender eine höhere Eigenverantwortung hat, es gibt mehr Wahl- und Entscheidungsmöglichkeiten sowie einen Wertepluralismus.
In einem modernen Fitnessstudio gibt es etwa Tanz- und Yoga-Kurse für Personen, die an der Erfahrung des eigenen Körpers, an afrikanischer, afroamerikanischer, südamerikanischer oder indischer Kultur interessiert sind, Bodyworkkurse und Wirbelsäulenkurse für Figur- und Gesundheitsbewusste, Step-Aerobic-Kurse für Personen, die Freude an der Bewältigung relativ schwieriger Choreographien haben, oder Tae-Boe- und Capoeira-Kurse für Leute, die sich für Kombinationen von Kampfsport und Tanzen begeistern können.
Durch diese Wahlmöglichkeiten gibt es einerseits mehr und vielfältigere Entfaltungs- Kontakt- und Integrationsmöglichkeiten, auf der anderen Seite kann der Mangel an festen Bindungen an Tätigkeiten und Gruppen auch Probleme mit sich bringen und unter Umständen sogar die Desintegration fördern. Der Mangel an festen Bindungen ist allerdings kein generelles Merkmal der neueren Sportarten.
Zu 3. Sind "klassische" Formen des Sporttreibens auch in Zukunft noch geeignete Wege zur Integration in die Gesellschaft ?
Traditionelle Sportarten wie etwa Ballsportarten, Kampfsportarten, Schwimmen oder Leichtathletik vermitteln kulturelle Werte wie fairer Wettbewerb, Disziplin, Gleichheit, Demokratie, Toleranz, Akzeptanz von Regeln, Kameradschaftlichkeit, Fairness, Offenheit, Ehrlichkeit, Hilfsbereitschaft und Bescheidenheit, die heute sowie in Zukunft der Persönlichkeitsförderung und der sozialen Integration förderlich sein können.
Auch soziale und kommunikative Kompetenzen werden gefördert, die sprachliche Verständigung spielt allerdings oft eine untergeordnete Rolle, was aber immerhin den Vorteil bietet, dass der Zugang zueinander für Personen, die nicht dieselbe Sprache sprechen, relativ leicht und unkompliziert ist. Außerdem sind die traditionellen Sportarten weltweit immer noch am verbreitesten, und daher sind mit den traditionellen Sportarten die meisten Personen erreichbar.
Die Propagierung eines einseitigen Spezialistentums, wie sie in den traditionellen Sportarten teilweise betrieben wird, ist jedoch kaum mehr zeitgemäß. Dass das Sporttreiben in traditionellen Vereinen oft den Charakter von in sich abgeschlossenen Eigenwelten ohne direkten Bezug zu anderen Lebensbereichen hat, bietet zwar den Vorteil, dass mögliche Barrieren wie Herkunft, Schicht, Sprache relativ irrelevant werden, andererseits ist der Transfer in diese anderen Lebensbereiche dann auch beschränkt.
Grundsätzlich bieten die weitaus meisten traditionellen Sportarten auch die Möglichkeit der Umgestaltung im Sinne des Wertewandels. Ein Beispiel hierfür ist das Konzept des "Offenen Sports", das bereits an vielen Schulen erfolgreich umgesetzt wird. Dies geschieht beispielsweise so, dass die Schüler im Rahmen des Turnunterrichts gemeinsam mit dem Lehrer einen "Geländeparcours" gestalten und selber die Spiel- und Wettkampfregeln bestimmen, wodurch soziale, sprachliche Kompetenzen und Eigenverantwortung bei den einzelnen Schülern gefördert werden.
Abschließend kann festgestellt werden, dass in unserer veränderten und wertepluralistischen Gesellschaft weder die traditionellen noch die neueren Formen des Sporttreibens für die soziale Integration zu bevorzugen sind. Beide Formen haben unterschiedliche Vor- und Nachteile, und können sich unter anderem auch deshalb sehr gut ergänzen.
Letztlich geht es darum, bei beiden Formen das vorhandene große Potenzial optimal zu nutzen. Um dieses sicherzustellen, sollte in der Integration und auch in der Integration durch Sport eine intensive Auseinandersetzung mit einem erweiterten Sportverständnis und den Ausprägungen der wertegewandelten Gesellschaft stattfinden.
Autor: Robert Keiner (Diplompsychologe)
Redaktionelle Betreuung: Richard Keiner, Andi Mündörfer (Deutsche Sporthochschule Köln)