I. Theorien und Befunde auf der Ebene des Individuums
Wenn eine Person versucht, sich in eine neue Lebensumwelt zu integrieren, laufen bei ihr Wahrnehmungs- und Informationsprozesse ab, sie bildet Konzepte und Theorien, sie hat Absichten und Bedürfnisse und äußert bestimmte Verhaltensweisen und emotionale Reaktionen. Die psychologische Subdisziplin der Allgemeinen Psychologie beschäftigt sich mit Wahrnehmung, Denken, Emotion und Motivation und liefert hierzu zahlreiche Theorien und Befunde.
Aber auch die Disziplinen der Persönlichkeitspsychologie, Sozialpsychologie, Pädagogischen und Kulturvergleichenden Psychologie kommen hier ins Spiel, da Wahrnehmung, Denken, Emotion und Motivation durch die Persönlichkeit, soziale Rolle, Erziehung und Kultur determiniert sind. Die Integration in eine neue Lebensumwelt lässt sich auch als Entwicklungsschritt deuten und damit als ein entwicklungspsychologisches Thema. Beispielsweise ist anzunehmen, dass beim Versuch, sich in die neue Umwelt zu integrieren, Bewältigungsstrategien zur Anwendung kommen, die schon bei vorherigen Entwicklungsschritten zur Ausprägung kamen.
Im Verlauf des Integrationsprozesses kann es außerdem zu vielfältigen psychischen Problemen kommen. Diese werden im Bereich der Klinischen Psychologie behandelt: eine unbefriedigende Integration kann bei einer Person zu Heimweh führen und in Depression münden, bei einer anderen Person kommt es dagegen zur Übernahme problematischer Männlichkeitsideale und zu aggressivem Verhalten.
II. Theorien und Befunde auf der Ebene von Gruppen
Sozialpsychologische Studien zeigen, dass Migranten oft Probleme mit ihrer sozialen Rolle und ihrem Selbstkonzept haben. Einerseits versuchen sie, sich über ihre bisherige soziale Identität hinwegzusetzen, andererseits werden sie gedrängt, sich eindeutig einer Nation beziehungsweise Kultur zuzuordnen. Sie sind in zwei Kulturen eine Minderheit und stoßen um so mehr auf Ablehnung, je stärker sie ihren Doppelbezug in den Vordergrund stellen.
Studien an jungen Türken ergaben, dass diese sich von der Mehrheitsgesellschaft oft wenig verstanden und akzeptiert fühlen. Osteuropäische Aussiedler erleben unabhängig von den Ausgangsbedingungen häufig ein hohes Maß an Fremdheit in der neuen Lebensumwelt. Psychologische Modelle postulieren, dass eine gute Integration nur dann gelingen kann, wenn sich die Migranten mit ihrer Rolle als Deutsche beziehungsweise als Mitglieder der deutschen Gesellschaft positiv identifizieren können, wozu ein enger Kontakt mit Einheimischen und eine positiv Wertschätzung für diese Vorraussetzung ist.
III. Psychologische Aspekte auf der Ebene von Kulturen
Die Kulturvergleichende Psychologie beschäftigt sich damit, dass sie Menschen aufgrund ihrer kulturellen Herkunft in ihren Wahrnehmungen, Gedankenmustern, Einstellungen, Konzepten, emotionalen Reaktionen und Bedürfnissen in spezifischer Weise unterscheiden. Um ein tieferes Verständnis und eine festere Bindung zu Menschen aus anderen Kulturen entwickeln zu können, muss man bereit sein, über kulturelle Rollen und Normen zu reflektieren, man muss sich über andere Kulturen informieren und versuchen, diese zu verstehen und zu tolerieren, ebenso muss man aber auch über seine eigenen kulturellen Merkmale reflektieren und ethnozentrisches (auf die eigene Kultur beschränktes) Denken abbauen (Ignoranz, Dominanz- und Überlegenheitsintentionen, Bedrohungsängste, Vorurteile, destruktive Stereotypen).
Auf diese Weise können kulturelle Unterschiede dann als Ressourcen zur Weiterentwicklung einer multikulturellen Gesellschaft verstanden werden anstatt dass sie Probleme schaffen. Integration in diesem Sinne würde nicht bedeuten, dass sich Migranten an eine feste Struktur rein äußerlich anpassen, sondern dass die Gesellschaft als ein lebendiger und offener Organismus die Migranten aufnimmt, um mit ihnen zusammen ein neues Ganzes zu bilden, wobei natürlich auch bei den Migranten Offenheit und Entwicklungsbereitschaft vorhanden sein sollte (beispielsweise die Bereitschaft, die deutsche Sprache zu erlernen).
IV. Möglichkeiten zu praktischen Maßnahmen
Was lässt sich nun speziell im Sportbereich tun, um ein besseres interkulturelles Verstehen zu fördern? Forschungen haben gezeigt, dass allein der direkte Kontakt zwischen Einheimischen und Migranten etwa im Sportverein den Abbau von Vorurteilen und das bessere gegenseitige Verstehen effektiv fördern kann, sofern ein Minimum an Offenheit bei den Beteiligten vorhanden ist.
Sportvereine und andere Institutionen können auch dazu dienen, Informationen zu liefern über die Kulturen der Herkunftsländer der Migranten sowie über landestypische Wahrnehmungs-, Einstellungs- und Verhaltensmuster (einschließlich der Muster der Einheimischen), welche möglicherweise zu Konflikten führen können. Trainingsleiter könnten geschult werden, auf unterschiedliche kulturelle Einstellungen mehr Rücksicht zu nehmen und diese nach Gegebenheit allen Beteiligten „spielerisch“ nahezubringen, bei Mannschaftssportarten beispielsweise den asiatischen Kollektivismus im Gegensatz zum europäischen Individualismus.
Sportveranstaltungen können genutzt werden, um gegenseitige Akzeptanz und Toleranz zu fördern. Und schließlich können die Ressourcen fremder Kulturen durch den Sport selbst vermittelt werden: Spontaneität und Lebensfreude durch Samba aus Brasilien, Aufmerksamkeit und Konzentration durch Thai-Chi und Yoga aus Asien, spielerische Expressivität durch Hip-Hop aus Nordamerika u.s.w.
Text: Robert Keiner, Diplompsychologe
Redaktionelle Betreuung: Richard Keiner, Andi Mündörfer (Deutsche Sporthochschule Köln)