„Walking & Talking" in Bremerhaven – ein Erlebnisbericht

Die Bremerhavener Sportlotsin Susanne Schultz ist seit 2015 ehrenamtlich im Programm „Integration durch Sport“ engagiert und Gründerin des multikulturellen Lauftreffs „Walking & Talking“. Für den Sammelband „Herzlich Willkommen in Bremerhaven“ hat sie Ende letzten Jahres einen Erfahrungs-Bericht von den Anfängen bis zur Gegenwart des Lauf- und Walkingtreffs verfasst. Inzwischen sind viele der Angekommenen Freunde geworden.

Bekanntschaften entlang des Weges.
Bekanntschaften entlang des Weges.

Wie alles begann – Die Ampel ist grün. 

Im Jahr 2015 kommen zahlreiche Geflüchtete aus Syrien, dem Iran und Afghanistan nach Bremerhaven.

Als ich Im Herbst mit dem Fahrrad zur Arbeit unterwegs bin, fällt mir ein junger Mann auf. Er fährt ebenfalls mit dem Rad. Wir halten an einer großen Kreuzung vor einer roten Ampel. Auf seinem Gepäckträger klemmt eine Sporttasche, gekleidet ist er in einen ausgedienten Trainingsanzug. Er sagt zu mir: „Guten Morgen! Die Ampel ist rot! Wir müssen halten!“ Etwas überrascht und gleichzeitig erfreut, erwidere ich seinen Gruß: „Die Ampel ist rot. Ja, wir müssen warten.“ Als die Ampel umspringt, sagt er: „Die Ampel ist grün, wir dürfen jetzt fahren!“ Auch diese, von ihm in fast akzentfreiem Deutsch gesprochene, Bemerkung wiederhole ich noch einmal. Dann fuhr jeder in eine andere Richtung.

Ich denke noch lange an diesen Herbsttag und über die Begegnung mit ihm nach. Ich finde es erstaunlich, dass dieser junge Mensch – der mit großer Wahrscheinlichkeit alles, was ihm lieb ist, erst kürzlich in der Heimat zurücklassen musste – so offen in praktischer Umsetzung, geübte Sätze in der neuen Sprache, in einer passenden Situation anwendet. Außerdem begeistert mich, dass er so pragmatisch Kontakt in der fremden Umgebung sucht und dafür seine Alltags-Situationen nutzt. Auch scheint er sich früh einer Sportgruppe angeschlossen zu haben.

Am Abend jogge ich Runden im Stadtpark. Hier auf der Laufbahn, fallen mir erneut unbekannte junge Menschen auf. Das mag Zufall sein, andererseits glaube ich daran, dass alles, was mich an diesem Tag emotional berührt, von Bedeutung ist.

Den jungen Sportler vom Vormittag sehe ich nie wieder. Er ist allerdings der Auslöser für das, was folgt: Ich beschließe, einen offenen Lauftreff für „Geflüchtete, Freunde und Interessierte“ ins Leben zu rufen.

Unterstützung finde ich in der Kreuzkirchen-Gemeinde Bremerhaven. Hier entwickelt sich ein Netzwerk für Menschen mit Migrationshintergrund. Im April 2016 starte ich schließlich nach einer Vorlaufphase, in der ich über die das Netzwerk Werbung für die Idee mache, mit einem einzigen kurdischen Sportler an unserem Trainings-Treffpunkt im Bürgerpark.

Ein multikulturelles Sportprojekt
Als Namen für den neu gegründeten multikulturellen Lauftreff wähle ich „Walking & Talking“. Das Ziel: Geflüchteten Menschen aller Altersgruppen die Möglichkeit eröffnen, in entspannter Atmosphäre, ohne viel Aufwand, aber mit Bewegung, Abstand von belastenden Lebensumständen zu gewinnen.Joggen macht erwiesenermaßen den Kopf frei. Um die Bewegung beim Laufen zu koordinieren, bleiben dem Gehirn weniger Ressourcen zum Grübeln: Stress wird gesenkt, die Stimmung gehoben. Diese Erfahrung machen auch mein kurdischer Sportfreund und ich. Er spricht kein einziges Wort Deutsch, aber wir verständigen uns mit Händen und Füßen, lachen viel und – zumindest zeitweise –vergisst er während des Laufens seine Sorgen.

Bis zum Sommer bringt er weitere Freunde mit ins Training. Einige verfügen bereits über gute Deutschkenntnisse. Während des Laufens und in den Pausenunterhalten wir uns viel. Dadurch steigen die Sicherheit und folglich auch der Mut in der fremden Sprache zu reden.

Gemeinsam beschließen wir, dass wir am nächsten Stadtmarathon in Bremerhaven teilnehmen wollen. Ich beschaffe dazu Trikots und Sponsoren, die uns eine einheitliche „Walking &Talking“-Beflockung auf den T-Shirts ermöglichen. Bis zum Start des Stadtlaufs beschaffen wir auch für jeden ein gutes Paar Laufschuhe – auf gutem Fundament läuft es sich auf Dauer besser und gesünder.

Im Spätsommer 2016 gehen wir dann gut vorbereitet mit acht Läuferinnen und Läufern an den Start zum hiesigen Stadtmarathon. Einige wagen sich direkt an die 10 km, andere versuchen sich bescheidener an der 5-km-Distanz. Alle schneiden mit erstaunlich guten Zeiten ab und wir sind uns einig, dass wir im folgenden Jahr erneut an den Start gehen werden.

Die Stimmung könnte nicht besser sein: Es ist ein spürbares Glücks-Gefühl und Zusammenhalt als Team entstanden. Alles gibt sich gegenseitig Aufwind füttert die Motivation, weiterhin an Laufveranstaltungen teilzunehmen. Die Männer beginnen, den Wettbewerb zu mögen und finden Freude darin, die eigene sportliche Leistung im Wettbewerb mit anderen zu messen. Fortan starten wir zu diversen Volksläufen im Umkreis unserer Stadt. Inzwischen ist die Gruppe um die doppelte Zahl an Läufern gewachsen. Ich freue mich sehr darüber. Aber es gibt auch Bedenken: Es wird befürchtet, dass die Gruppe zu unübersichtlich wird und die Betreuung der Gruppe nicht mehr gewährleistet ist.

Ich hingegen bleibe meiner anfänglichen Idee treu. Du lernst, indem du dich austauschst! Menschen sind soziale Wesen und lernen viel von- und miteinander. Mir ist wichtig, dass jeder Mensch bei „Walking & Talking“ mitmachen kann, der Lust zu diesem Sport in unserer Gemeinschaft hat. Wir treffen uns inzwischen sogar jede Woche mehrmals zum Training. Oft ergänzen wir unsere Treffen um Ausflüge mit dem Rad oder einem Picknick am Deich. Nach Volksläufen grillen wir, und zu Weihnachten organisiere ich einen großen Raum, damit die Sportler, ihre Familien und Freunde mit uns zusammen eine Adventsfeier gestalten können. Immer wieder gibt es Förderer unserer multikulturellen Gemeinschaft. Diese Unterstützung tut uns gut und wir können sogar ein kleines Taschengeld für Speisen und Getränke zu Events zurückhalten.

Ich selbst besuche regelmäßig Integrationsseminare und -konferenzen, um zu lernen, weitere Kontakte zu knüpfen sowie unser multikulturelles Sport-Projekt vorzustellen.

Beim nächsten Stadtmarathon im Jahr 2017 begleitet uns ein regionaler Fernsehsender. Noch am selben Abend wird im Sportteil ein Fernsehbericht zu unserer Gruppe ausgestrahlt. Es gibt Live-Interviews mit unseren Läufern. Ein Radiobericht, bei dem ein syrischer Sportfreund und ich ein Interview in einer Livesendung zur Entstehung und der Entwicklung des Sporttreffs geben, geht dem Fernsehauftritt voraus. Durch einen Zeitungsartikel wird später nochmals kommuniziert, was wir mit „Walking & Talking“ in den letzten zwei Jahren gemerkt haben: Sport verbindet – und anfängliche Sprachbarrieren können sportlich überwunden werden.

Wir haben seit unserem Start im April 2015 inzwischen an insgesamt 25 Stadt- und Volksläufen teilgenommen. Zwei davon waren pandemiebedingt virtuelle Läufe. Dabei sind tausende Laufkilometer zusammengekommen, auf die die Gruppe „Walking & Talking“ zu Recht stolz sein kann. Etliche Urkunden, Medaillen und Pokale schmücken so manches private Zimmer und wecken immer wieder schöne Erinnerungen. Durch die Corona-Pandemie kommt es zeitweilig, wie in anderen Bereichen auch, zu Unterbrechungen. Das digitale Zeitalter mit WhatsApp und E-Mail ermöglicht es uns allerdings, den Zusammenhalt am Leben zu halten.

Gemeinschaftsgefühl weckt auch das Interesse für gemeinsame Ziele und es hilft zudem dabei, Konflikte, die im Sport und im Leben eben auch dazugehören, zu überwinden.

Wir sind eine große Familie
Immer öfter höre ich, dass einzelne Gruppenmitglieder sagen Wir sind eine große Familie. Das erfüllt mich mit einem Gefühl der Zufriedenheit. Dabei ist es dann auch nicht verwunderlich, dass die Bereitschaft einzelner Geflüchteter, sich mit der Zeit zu öffnen, um sich über tieferliegende Ängste und Bedürfnisse auszutauschen, wächst. Es wäre falsch zu verschweigen, dass Geflüchtete, die lange Zeit auf den Familiennachzug warten, schwer belastet sind. Die Fluchterlebnisse hinterlassen Narben und die Angst darum, die eigene Familie mit Kindern nie wieder zu sehen, nagt an den Geflüchteten. Gerade, weil der Wortschatz zu Anfang so gering und die Trauer so groß ist, bedarf es hier grundsätzlich professioneller Kompetenz. Als ehrenamtliche Betreuerin dieser Sportgruppe, aber auch als Freundin, gerate ich in diesen Dingen oft an meine Grenzen. Ich bin jedoch nicht allein: In Bremerhaven haben wir ein hervorragend aufgestelltes Flüchtlingsnetzwerk. Es gibt Hilfe für Geflüchtete, aber auch für Helfende.

Durch diese Hilfe bin ich im Jahr 2018 auch in Kontakt mit dem Programm „Integration durch Sport“ beim Landessportbund Bremen gekommen. Neben der Unterstützung bei sportspezifischen Themen war es uns zusätzlich möglich, an diversen Fortbildungen teilzunehmen, die auf verschiedene Fragen und Bedürfnisse von Übungsleitenden, Ehrenamtlichen aber auch Migrant:innen abgestimmt sind. Als Sportlotsin habe ich auch mein Netzwerk um viele Kontakte im Sport erweitert und eine kleine Honorierung im Zuge der Übungsleiter-Pauschale hilft bei der Realisierung von kleineren Geschenk-Aktionen oder Fahrten zu Veranstaltungen.

Rückblickend ist festzuhalten: Einige Sportler stehen inzwischen nach mühsam und fleißig erarbeiteten Deutschzertifikaten in Ausbildung oder Beruf. Viele von ihnen haben die Stadt Bremerhaven verlassen. Wir blicken auf eine wertvolle gemeinsame Zeit zurück. Besonders ist, dass wir beiläufig erstaunlich viele Erlebnisse in ganz verschiedenen Lebensbereichen teilen. Dazu zählen die Unterstützung bei Arztbesuchen, Behördenangelegenheiten, Ausbildungsplatz- und Jobsuche, Wohnungssuche und Wohnungseinrichtung, Übersetzungshilfe, Theaterbesuche, die Teilnahme an Sportevents im fußballerischen Bereich, Basketballveranstaltungen, das Erstellen eines gemeinsamen Fotobuches zu Ende jeden Jahres sowie gemeinsame Essen und vielem mehr. Nach der Pandemie und ohne Hygieneregeln, welche in den vergangenen zwei Jahren selbstverständlich auch im Laufsport verstärkt eingehalten werden mussten, haben wir das Training seit April 2022 wieder regulär aufgenommen.

Blick in Gegenwart und Zukunft
Seit Beginn des Ukrainekriegs sind zahlreiche Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine in unsere Stadt gekommen. Bemühungen, sie für den Laufsport zu begeistern, werden bisher noch nicht erwidert. Der Volleyballsport steht in der Ukraine zum Beispiel hoch im Kurs und ein entsprechendes Angebot beim Geestemünder TV stößt auf Resonanz.

Was „Walking &Talking“ anbelangt, zeichnet sich auch in 2022 ein neuer Aufschwung ab: Menschen aus Syrien, dem Iran, Indien und Afghanistan werden auf uns aufmerksam. Auch über die ungewisse Zeit der Corona-Pandemie ist der Zusammenhalt der Gruppe uneingeschränkt gegenwärtig. Obwohl sich die Gruppe in neuen Konstellation erst seit wenigen Wochen kennt, ist das Gefühl von „Wir sind eine große Familie“ spürbar. Das macht mich persönlich sehr glücklich.

Mein besonderer Dank gilt dem jungen Mann, dem ich im Herbst 2015 als Radfahrerin an der Straßen-Kreuzung begegnet bin. Er hat mich zu der Idee des Lauftreffs inspiriert. Bedanken möchte ich mich an dieser Stelle bei jedem einzelnen Sportfreund und jeder Sportfreundin aus dem multikulturellen Lauftreff „Walking & Talking“. Ich lerne immer wieder viel Gutes von euch, euren Familien und Freunden. Und zusammen sind wir jenen zu Dank verpflichtet, die an uns geglaubt und uns verschiedentlich gefördert haben.

DANKE! im Namen von „Walking & Talking

Susanne Schultz

Info: Sportlots:innen-Projekt des Programms „Integration durch Sport“

In Bremen und Bremerhaven sind momentan 10 Sportlotsinnen und Sportlotsen unterwegs. Sie sind in der Regel über die Übungsleiter-Pauschale in Sportvereinen angedockt und übernehmen dort integrationsfördernde Aufgaben. Dies können je nach Motivation, Hintergrund und Kompetenzen beispielsweise Übersetzungstätigkeiten, Wegebegleitungen, Hilfe bei Formalien, Konfliktmediation oder auch spezifische (Sport-)Angebote sein. Eine gute Vereinsanbindung und eigene Migrationserfahrungen sind in der Regel hilfreich.

Wenn ihr Verein Interesse besitzt und eine geeignete Person als Sportlots:in in Aussicht steht, melden Sie sich für Informationen zur Förderung gern bei uns oder besuchen sie die Homepage des Landessportbundes unter www.lsb-bremen.de/themen/integration/ids/foerdermoeglichkeiten

Programm „Integration durch Sport“ im Landessportbund Bremen

Kirsten Wolf / k.wolf(at)lsb-bremen.de / 0421 79 287 -27

Patrick Pavel / p.pavel(at)lsb-bremen.de / 0421 79 287 -24

Das Programm „Integration durch Sport“ wird aus Mitteln des Bundesministeriums des Innern und für Heimat (BMI) und dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) unterstützt.


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