Wir müssen die Dinge benennen um sie zu verändern

Interview mit der Kulturwissenschaftlerin, Journalistin und Autorin Mithu Sanyal über das Potenzial des Sports in einer diversen Gesellschaft.

Mithu Sanyal - Copyright: Carolin Windel
Mithu Sanyal - Copyright: Carolin Windel

Mithu Sanyal ist Kulturwissenschaftlerin, Journalistin und Autorin. Große Bekanntheit erlangte die 52-Jährige mit ihrem vor zwei Jahren veröffentlichten Romandebüt „Identitti“, das sich auf humorvolle Weise mit identitätspolitischen und postkolonialen Fragen beschäftigte und auf Anhieb auf der Shortlist des „Deutschen Buchpreises“ landete.

Wer darüber reden möchte, wie eine diverse Gesellschaft erreicht und gestaltet werden kann, ist bei Mithu Sanyal richtig aufgehoben. Zum einen ist da ihre enorme Klugheit und Kompetenz, zum anderen schafft sie ein Diskussionsklima, das von großer Offenheit geprägt ist. Sie selbst sagt: „Ich möchte Leute einladen, in ein Gespräch zu gehen.“ Eine wohltuende Abwechslung in einem häufig von Zuspitzung und persönlicher Diskreditierung bestimmten Identitätsdiskurs.

Und: Obwohl nicht enger verbandelt mit dem Sport, ist Mithu Sanyal überzeugt von seinem Potenzial in einer diversen Gesellschaft. Ein Gespräch über diverse Themen: den Hormonstatus von Spitzenathlet*innen, wie Mannschaftssportarten helfen, Rassismus zu überwinden und warum wir eine Leitbild- und keine Leitkulturdebatte brauchen.

Interview: Marcus Meyer

Sport und Diversity, an was denken Sie dabei zuerst?

Spontan, dass Sport lange Zeit fast der einzige Bereich war, in dem Schwarze Menschen – vor allem in den USA – über Stipendien und andere Programme, die Chance hatten, an Universitäten zu gelangen. Im weiteren Sinne an den Gedanken von Geist und Körper und die Frage: Wer wird als Körper wahrgenommen und wer als Geist in unserer Gesellschaft. Sport war also eine Art Hintertür, eröffnete den Zugang. Eigentlich absurd, denn Sport ist natürlich zunächst Körper. Oder tappe ich da in dieselben Denkmuster?

An was denken Sie noch?

Die Frage ist natürlich auch ans Geschlecht gebunden, dass Frauen der Zugang zu bestimmten Sportarten und Wettbewerben verwehrt war. Bis auf Synchronschwimmen, da war es ganz lange umgekehrt. Und seit geraumer Zeit, dass die Verbände nicht wissen, wie sie mit trans* Personen umgehen sollen.

Die Frage, inwieweit trans* Personen vermeintliche körperliche Vorteile haben …

Ich finde die Idee interessant, dabei vom Hormonstatus auszugehen und das Geschlecht komplett außer Acht zu lassen. Dann braucht man nicht mehr von Männern oder Frauen zu sprechen, die so oder so aussehen. Der Hormonstatus wäre in etwa vergleichbar mit den Gewichtsklassen beim Boxen.

Was sagen Sie zu dem Satz: Sport ist der Integration förderlich, der Diversität aber eher hinderlich?

Nun, schon der Begriff „Integration“ ist ein schwieriges Wort, weil er von oben herab fungiert und die Vorstellung beinhaltet, es gäbe eine Gruppe, in die sich die andere einpassen muss. Ich kenne das von meinem Vater. Das wurde ihm gesagt, als er nach Deutschland gekommen ist: Integriere dich. Und er hat wirklich alles getan. Irgendwann wurde ihm klar, er kann machen, was er will, aber er wird nie als „deutsch“ akzeptiert werden. Dabei lebt er mittlerweile länger in Deutschland als je in Indien; die Vorstellung ist also absurd.

Deshalb der Gedanke, Integration sei nur eine Einbahnstraße, nicht etwas, an dem alle wachsen müssen?

Ja, aber wenn wir das beiseitelassen, ist Sport tatsächlich ein Feld, in dem vieles sehr erfolgreich umgesetzt wird. Gerade bei denen, die sonst oft die Bösen sind, die dämonisiert werden, nämlich die migrantisch gelesenen männlichen Jugendlichen. Es ist eine der Gruppen, die zurzeit mit den meisten Vorurteilen zu kämpfen hat. Im Sport ist das anders, da richtet sich ein großes Interesse auf sie. Dort können sie Erfolgserlebnisse haben. Soziologische Studien haben gezeigt, dass es bei Rassismus oder Vorurteilen durchaus hilfreich ist, wenn Menschen miteinander reden, aber am erfolgreichsten ist es, ihnen eine Aufgabe zu geben, die sie nur gemeinsam lösen können. Genauso funktionieren Mannschaftssportarten.

Und bei den Mädchen und Frauen?

Ich war bei einigen Workshops, in denen es um die Probleme für Mädchen geht, die aus Familien stammen, in denen manche Sportarten für Frauen stigmatisiert sind. Es war sehr interessant, wie viel Ermächtigung da bei den Mädchen zu beobachten war.

Können Sie Beispiele nennen?

In dem Fall handelte es sich um fußballspielende Mädchen aus Indien, Bangladesch und Pakistan und um die Diskussionen innerhalb der Familien. Die Eltern wollen auf der einen Seite das Beste für ihre Töchter, auf der anderen Seite war die Vorstellung, wie sie ihre Körper dabei präsentieren, für sie problematisch. Und die Trainer*innen haben ganz beeindruckende Wege gefunden, mit den Familien konstruktiv ins Gespräch zu kommen. Die Vorstellung, Sport sei etwas für Jungs, ist allerdings auch mir nicht fremd. Ich bin in diesem Bewusstsein aufgewachsen, und zwar in Deutschland.  

Woher kam dieses Bewusstsein?

Überallher. Das waren die 1980er-Jahre. Da haben Mädchen einfach viel weniger Sport gemacht und auch weniger „getobt“ als Jungen. Meine beste Schulfreundin hat damals Sport Leistungskurs gewählt. Sie war das einzige Mädchen. Irgendwann hat sie die Stufe wiederholt, weil der soziale Druck so groß war, nicht weil sie gemobbt worden wäre, sondern weil die Strukturen ihr deutlich machten: Du gehörst hier nicht hin. Das hat sich in der Zwischenzeit sehr verändert. Meine Tochter ist wahnsinnig sportlich, auch ihre Freundinnen. Darauf sind sie stolz, die haben kein Problem mit Stärke, mit Muskeln, das ist alles positiv besetzt, während es zu meiner Zeit als unweiblich galt. Manchmal mache ich mir Sorgen, dass es jetzt neue Körpernormen gibt. Aber dieses Gefühl, etwas zu können, den eigenen Körper anders zu erleben, das ist auch eine Form von Selbstwirksamkeit.

Die meisten weit verbreiteten Profisportarten sind westlicher Provenienz. Werden da postkoloniale Strukturen und Denkmuster transportiert?

Ich finde es nicht problematisch, dass es westliche Sportarten sind. Problematisch ist das Fehlen der anderen. Und dass sich das mediale Interesse so sehr auf eine Sportart konzentriert, also Fußball, und dann auf Männerfußball.

Wo wir gerade beim Männerfußball sind: Wie haben Sie damals die Debatte um Mesut Özil erlebt?

Ich war entsetzt. Vor allem, weil sofort mit rassistischen Stereotypen reagiert wurde. Vorher war er einer von uns, danach war er der „Türke“. Aus der Art, wie die Debatte ablief, hätte man eine Unterrichtseinheit „Was ist internalisierter Rassismus“ machen können. Was Denken in „wir und ihr“, was „Othering“ ist. Es wurden in der Diskussion Begriffe aus der untersten Schublade benutzt. Aber das ist nicht für den Sport spezifisch, sondern typisch für Rassismus.

Es ist noch nicht so lange her, dass die öffentliche Diskussion über Diversity Fahrt aufgenommen hat. Warum jetzt?

Das hat verschiedene Gründe, einer ist sicherlich das Internet. Es hat vielen Gruppen Sichtbarkeit verschafft. Vorher haben die traditionellen Medien die öffentlichen Debatten dominiert und Diversity wurde als „Randgruppenthema“ wahrgenommen. Und jetzt reden diese Randgruppen mit und es stellt sich heraus, dass es verdammt viele Menschen sind. Zurzeit hat ungefähr ein Viertel aller Menschen in Deutschland einen sogenannten Migrationshintergrund. In absehbarer Zeit werden es 50 Prozent sein. Und in 100 Jahren wahrscheinlich alle.

Und die anderen Gründe?

Ein anderer wichtiger Grund war die Änderung des Staatsbürgerschaftsgesetzes um die Jahrtausendwende. Der Gedanke, dass „die“ auch „wir“ sein können. Das politisch anzuerkennen, was faktisch schon lange der Fall war: Deutschland als Einwanderungsgesellschaft zu begreifen.  

 


Mithu Sanyal: „Zugleich sind sich die Probleme, die unter dem Begriff Diversity zusammengefasst diskutiert werden – also Diskriminierung aufgrund von Herkunft, sexueller Identität, Behinderung oder Genderfragen –, an bestimmten Punkten strukturell ähnlich: Es geht nahezu immer um ein Aufteilen in ,wir‘ und ,die‘. Aus vielen Themen kann man daher ganz viel über die jeweils anderen lernen.“


 

Was hat die Entscheidung konkret verändert?

Damit wurde das „Wir“-Feld für die Diskussion geöffnet. Wenn wir eine Gesellschaft sind, müssen wir auch alle gemeinsam die Regeln bestimmen. Deshalb sprechen wir gerade so viel über Repräsentation; also wie viele Schauspielerinnen sehen wir, wie viele Sportlerinnen. Das ist wichtig. Aber wir müssen auch über Partizipation sprechen: Wer trifft die Entscheidungen? Wer stellt die Weichen? Wie sieht es an den Hochschulen aus, wie kommt man dahin? Repräsentation ist ein Teilbereich von dem, was wir unter Diversität verstehen.   

Erleben Sie es auch persönlich?

Als vor zwei Jahren der Preis der Leipziger Buchmesse verliehen wurde, gab es im Vorfeld zwei Bücher, die intensiv besprochen worden sind: „Adas Raum“ von Sharon Dodua Otoo und „Identitti“ von mir. Beide haben es nicht auf die Nominiertenliste geschafft. Daraufhin haben zahlreiche Kulturschaffende aus Deutschland in einem offenen Brief darauf hingewiesen, dass noch nie eine Woman of Colour für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert worden war – und fragten, inwiefern das etwas mit Wahrnehmungsschranken zu tun hätte. Dazu muss man sagen, dass der Preis der Leipziger Buchmesse ein sehr diverser Preis ist, aber weil er so prominent ist, hat sich an ihm die Debatte über Strukturen im Buchmarkt entzündet, die längst überfällig war. Anschließend ist mein Buch für den Deutschen Buchpreis nominiert worden und die Liste war insgesamt so divers wie nie zuvor. Und das nicht, weil man plötzlich glaubte, politisch besonders korrekt sein zu müssen. Ich hatte eher das Gefühl, dass nun anders geguckt wurde. Vorher haben mich Journalisten häufig zu meinem Buch gefragt: Ist das denn echte Literatur? Und das hat ganz viel damit zu tun, dass wir gelernt haben, wie Geschichten in Deutschland erzählt werden – und wie nicht. Und da öffnet sich gerade ganz viel.

Haben sie das Gefühl, dass Sie durch diese Aufmerksamkeit auf das zurückgeworfen werden, was Sie eigentlich überwinden wollen, nämlich Ihre Herkunft?

Wir müssen die Dinge benennen, um sie verändern zu können, und indem wir sie benennen, schreiben wir sie zugleich fest. Das Problem kann man nicht umgehen. Denn unser Gehirn ist ja so kooperativ, das heißt, wenn wir von Geschlecht oder Race oder was auch immer sprechen, dann lernt das Gehirn: Oh, es gibt Geschlechter, die total unterschiedlich voneinander sind. Und das ist ja eigentlich genau das Gegenteil von dem, was wir wollen. Gleichzeitig müssen wir über Sexismus, Rassismus und andere Formen der Diskriminierung sprechen. In meiner Literatur geht es mir aber eher darum, Geschichten zu erzählen, die für mich ein Teil von deutschem Alltagsleben sind, die ich aber bisher noch zu wenig in der deutschsprachigen Literatur finde. Also den Pool an Geschichten zu erweitern, den Bereich des Imaginären mitzugestalten. Ich persönlich fühle mich auch nicht nur als Person of Colour, sondern als Schriftstellerin, Kulturwissenschaftlerin, Partnerin, Mutter, Schwimmerin, Gärtnerin, um nur einige zu nennen. Also, wir haben ja immer viele Identitäten und die Frage ist, welcher Identitätsmarker in welchem Kontext für uns wichtig ist.  

Ist die Größe des Begriffes Diversity ein Problem in der Diskussion, in der Wahrnehmung, im Vorantreiben, weil jeweils ein Teilaspekt die anderen überragt?

Wenn ein Thema entdeckt wird, bedeutet es in der Medienlogik, dass die anderen weniger Aufmerksamkeit bekommen. Zugleich sind sich die Probleme, die unter dem Begriff Diversity zusammengefasst diskutiert werden – also Diskriminierung aufgrund von Herkunft, sexueller Identität, Behinderung oder Genderfragen –, an bestimmten Punkten strukturell ähnlich: Es geht nahezu immer um ein Aufteilen in „wir“ und „die“. Aus vielen Themen kann man daher ganz viel über die jeweils anderen lernen. Und viele erlernte Kompetenzen sind übertragbar. Und es gibt ja auch das, was mit dem Begriff der Intersektionalität bezeichnet wird, also dass sich bestimmte Diskriminierungen verstärken. Etwa die migrantisch gelesenen männlichen Jugendlichen. Die werden nicht „nur“ als Migranten oder „nur“ als männliche Jugendliche diskriminiert, sondern eben als „migrantische junge Männer“.

Was halten Sie von der Leitkulturdebatte?

Das Problem mit Leitkultur ist, dass es sich dabei um einen Blick in die Vergangenheit handelt. Wer waren wir? Daraus definieren wir dann, wer wir heute sind. Rückwärtsgewandte Blicke aber haben die Tendenz, eine Vergangenheit zu imaginieren, die es so nie gegeben hat. Also diese Vorstellung von Deutschland als einem vordringlich weißen Land, in dem es Migration erst seit den 1960er-Jahren gibt, das ist Humbug. Deutschland liegt in der Mitte Europas, hier sind seit jeher Menschen aus allen Richtungen durchgezogen und hängengeblieben. Der einzige Zeitpunkt, zu dem Deutschland verhältnismäßig homogen war, war nach dem Zweiten Weltkrieg als Folge des Faschismus. Weder davor noch danach waren wir jemals so homogen. Die Migrationsforscherin Naika Foroutan sagt sinngemäß: Was wir als Gesellschaft brauchen, ist keine Leitkulturdebatte, sondern eine Leitbilddebatte. Wo wollen wir als Gesellschaft gemeinsam hin? In diesem Sinne empfinde ich es als Herausforderung, Geschichten so zu erzählen, dass sie unsere Zukunft öffnen.

Sie haben in Interviews schon öfter auf Thomas Mann hingewiesen, der eine Zuwanderungsgeschichte hat, aber in der Rezeption als der deutsche Großschriftsteller schlechthin gilt.  

Die Dominanz von Thomas Mann im Deutschunterricht war verblüffend. Er ist mir aber immer fremd geblieben. Umso bewegender war es, ihn über den Umweg seiner Familiengeschichte, seiner Mutter Julia da Silva-Bruhns, die Brasilianerin war und nach dem Tod ihrer Mutter als Mädchen nach Lübeck verfrachtet wurde, in seiner Gebrochenheit und Diversität so spät noch einmal ganz neu kennenzulernen. Wenn mir das jemand früher erzählt hätte, dass Thomas Mann auch ein Mixed-Race-Kind ist, hätte es mir einen wärmeren Blick auf ihn erlaubt. Und der Germanistik einen wärmeren Blick auf meine eigene Geschichte. Es ist erstaunlich, dass wir das so übersehen, obwohl das für ihn ja eine große Rolle gespielt hat und auch in seinem ganzen Werk durchschimmert.  

 


Nur mit Humor

Mithu Sanyal wurde 1971 in Düsseldorf-Oberbilk geboren. Ihre Mutter stammt aus Polen, der Vater aus Indien. Sie studierte deutsche und englische Literatur an der Düsseldorfer Universität und promovierte über die Kulturgeschichte des weiblichen Genitals. Zu ihren Themenschwerpunkten zählen Feminismus, Rassismus, Postkolonialismus und Popkultur. Nach mehreren Sachbüchern zu diesen Themen folgte 2021 der erste, vielfach gelobte Roman „Identitti“ über eine Professorin, die sich als Inderin ausgibt, aber deutscher Abstammung ist. Die zweite Erzählung ist gerade in Arbeit, sie wird sich mit unbekannten Aspekten des indischen Unabhängigkeitskampfes beschäftigen. In einem Interview mit dem Deutschlandfunk sagte Mithu Sanyal, Humor sei ihre Form, über komplexe Themen wie Rassismus, Diskriminierung und Identität zu sprechen.  


 


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