„Ich öffne mich – und damit die Schüler“

Martin Rietsch ist der Musiker „2Schneidig“. Und der Leiter von Workshops zu Antirassismus, Gewalt- und Drogenprävention. Ein Gespräch über Ausgrenzung, Gruppendruck und HipHop.

Zweiseitig: In Schulen nutzt Martin Rietsch HipHop als Lehrmittel...
Zweiseitig: In Schulen nutzt Martin Rietsch HipHop als Lehrmittel...

„2Schneidig“ – Bezieht sich Ihr Künstlername auf Ihre bikulturelle Herkunft?

Nein. Das könnte man zwar so deuten und es hat auch mit meiner Biografie zu tun, aber in einem anderen Sinn. Die Schattenseiten in meinem Leben waren über längere Zeit sehr ausgeprägt, bis sich das irgendwann gewandelt hat. Das Wort „zweischneidig“ selbst geht auf die Bibel zurück.

Schatten und Licht, die zwei Schneiden respektive Seiten des Lebens?

Ja, genau. Ich hatte keine leichte Kindheit, bin ohne Vater aufgewachsen und habe auch Rassismus erlebt, unter anderem im Sportverein. Fußball war meine Leidenschaft, aber mein Trainer hat mich ausgegrenzt. Die Gefühle von damals haben mich nie losgelassen und letztlich dazu geführt, dass ich mich nun gegen das engagiere, was ich selbst erlebt habe.

Gewalt, Rassismus, Drogenmissbrauch: Das sind Themen in Ihren Texten, das sind auch die Themen Ihrer Seminare für Schüler. Welche Rolle spielen Ihre persönlichen Erlebnisse in diesen Workshops?

Das hängt natürlich vom Seminar ab, von Alter und Zahl der Schüler, von der Dauer und dem Thema. Wenn es um Rassismus geht, berichte ich viel von meinen Erlebnissen und denen meines Sohnes, der auch einige unschöne Dinge erlebt hat. Indem ich den Kindern persönliche, für mich schlimme Dinge erzähle, öffne ich mich – und mit mir öffnen sich die Schüler. Es geht darum, Reflexion anzuregen, sowohl auf diesem persönlichen Weg als auch über interaktive Spiele oder Filme zum Thema.

Ist Rassismus für die meisten Schüler ein rein theoretisches oder auch ein praktisches Thema?  

Es gibt schon krasse Beispiele. Vor Kurzem hatte ich eine Klasse mit einer Syrerin, die ihre Eltern verloren hatte und in jeder freien Minute Deutsch gelernt hat, das Wörterbuch immer dabei. Am zweiten Tag habe ich die Kinder aufgefordert, Gruppen zu bilden für einen Tanz. Niemand wollte das Mädchen dabei haben, sie haben sie ausgegrenzt. Sie rannte weinend aus der Halle. Ich bin hinterher, kam aber nicht gleich an sie heran. Also bin ich zurück, habe an die Flipchart ein Bild zum Perspektivwechsel gemalt und gesagt: Stellt Euch mal vor, Ihr kommt nach Syrien, nachdem Eure Eltern gestorben sind, und erfahrt so eine Ablehnung, obwohl ihr selbst alles tut, die Sprache zu lernen und dazuzugehören! Das hat natürlich etwas gemacht mit den Schülern. Das Mädchen hat dann noch etwas Zeit gebraucht, aber am nächsten Tag hat sie sich ihren Mitschülern wieder geöffnet. Natürlich setzt so eine Entwicklung voraus, dass man längere Zeit miteinander hat, nicht nur einen Projekttag.

Tanzen respektive HipHop ist oft ein Thema in Ihren Workshops, manchmal ist das sogar der Aufhänger. Wie sieht das in der Regel aus?

Auch das ist ganz verschieden. Oft üben wir am Ende eines Seminartages ein bisschen Breakdance oder Electric Boogie oder studieren einen Rapsong ein, der natürlich nicht gewaltverherrlichend oder sexistisch ist, sondern sich gegen Rassismus oder Alkoholkonsum wendet. Das Ganze unterlege ich dann mit einem Beatbox-Kurs (beim Beatboxen wird der Ton von Schlaginstrumenten durch Mund und Mikro imitiert, d. Red.), oder mit ein bisschen HipHop-History. Damals in der Bronx, in den Anfängen, war die Botschaft ja: Jetzt zählt der stärkste Move, nicht mehr die härteste Faust.

Glaube, Musik und Engagement

Martin Rietsch alias 2schneidig hat eine „Odyssee“ hinter sich – so nennt er seine Kindheit. Der Sohn einer deutschen Mutter wuchs ohne seinen nigerianischen Vater und in wechselnden Pflegefamilien und -einrichtungen auf. Er kam auf die schiefe Bahn, von der ihn „der Glaube und christliche Werte“ abbrachten, sagt er. Seit 1999 macht der Niedersachse Funk-, Rap- oder Soul-Musik, er trat etwa 1500 Mal auf 4 Kontinenten auf: In Berlin (Olympiastadion) oder Bangkok, als Vorgruppe von Joe Cocker, im TV; zugleich hielt er die ersten Seminare zu Gewalt- oder Drogenprävention. Seit er rund um ein Konzert in Manila philippinische Kinder auf einer Müllkippe „sehnlich auf die nächste Fuhre warten“ sah, engagiert sich Rietsch auch international, zurzeit plant er ein Fußballturnier zugunsten von Kinderhilfsprojekten in Brasilien. Im Dezember erhielt er den Fair Play Preis des Deutschen Sports in der Sonderkategorie „Integration“. 

 

Was vermitteln Sie durch das Tanzen selbst?

Das Entscheidende ist der Spaß dabei, das in relativ kurzer Zeit erzeugte Zusammengehörigkeitsgefühl und das Erfolgserlebnis – wenn wir tanzen üben, dann behalten die Kinder die Schritte. Sie gehen nach Hause und können breakdancen.

Selbstwerttraining ergänzt die Reflexion?

Beides gehört zusammen. Einmal habe ich an einer Schule die Auftaktveranstaltung zu einer stadtweiten Aktionswoche vorbereitet, es sollte eine Tanzperformance für den Bürgermeister, Regionalpolitiker und Sponsoren geben. Als ich anfing zu trainieren, waren einige Lehrer mit im Raum, sie sahen mit verschränkten Armen zu. Nach ein paar Minuten haben sie gesagt: „Das wird nichts, Herr Rietsch, die kriegen das nicht hin, lassen Sie sich lieber was anderes einfallen.“  

Sie haben vermutlich widersprochen.

Ich habe die Lehrer gebeten, den Raum zu verlassen, und den Schülern gesagt: „Ihr könnt das schaffen. In Euch ist Talent, und das setzen wir frei. Wir werden das Publikum heute Abend begeistern.“ Genau das ist passiert. Mit Zuspruch stärkt man den Glauben und die Bereitschaft der Kinder, etwas zu lernen, das übersehen manche Lehrer. Die Kinder können dann viel erreichen. Und das gesteigerte Selbstvertrauen hilft Ihnen, sich Gruppenzwängen zu entziehen.

Ist das tatsächlich das Problem: Der Gruppenzwang, die Angst, anders zu sein?

Meistens schon. Deshalb geht es darum, die Jugendlichen in die Position zu versetzen, „Nein“ zu sagen. Wenn ich unter Elf-, Zwölfjährigen frage, wer schon mal was getrunken hat, dann sind 70 Prozent der Arme oben. Und wenn ich nach Erfahrung mit Alkopopps frage, sind es nicht weniger. Das Problem bei diesen Getränken ist, dass man den Alkohol nicht schmeckt – bis zum Blackout. Und auf Partys glauben sich die Jugendlichen in einem geschützten Rahmen, sie verstehen nicht, dass auch ihre Bekannten die Kontrolle verlieren. Das Ergebnis kann sein, dass sie ausgezogen werden und Nacktbilder von ihnen bei Facebook gepostet werden.   
 
Ist das ein Phänomen bestimmter Umfelder?

Nein. Ich bin seit 15 Jahren an Bildungseinrichtungen unterwegs, Gymnasium, Berufsschule, Förderschule, und seit 2014 auch an Grundschulen; ich habe selbst an der Uni Bremen schon einen Vortrag gehalten. Durch die sozialen Netzwerke dringen Themen wie Sucht, Drogen und Gewalt heute überall hin – selbst im kleinsten Dorf haben sie eine Art Gangstarappa. Und in fast jeder  Klasse gibt es jemanden, der gemobbt wird – mal mehr, mal weniger offensichtlich.

Wie erreichen Sie die Schüler am Rand, die Ansprache und Integration also am dringendsten brauchen?

Ich kenne die Schüler in der Regel nicht und mache mir keine Gedanken, wer „cool“ ist oder wer eventuell als Außenseiter gilt – das ist für mich nicht relevant und insofern von Vorteil, als dass ich natürlich jeden gleich behandle. Viele verschlossene oder ausgegrenzte Schüler ermutigt es, dass ihnen bedingungslos etwas zugetraut wird, ob nun bei Spielen, Gruppenarbeiten oder im Breakdance; das erleben viele leider zu wenig.

(Quelle: DOSB / Das Interview führte Nicolas Richter)


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  • ...auf der Bühne macht er ihn zur Unterhaltungskunst (Fotos: Dynamic Booking Vertriebs GmbH)
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