Günler: "Wir sind kein Migrantensportverein"

Suayip Günler, Taktgeber bei Türkgücü Kassel, möchte nicht mehr in Schubladen landen. Sein Verein versucht vorzumachen, wie das geht. "Offen sein für Unterschiede", sagt Günler im Interview.

Suayip Günler, Foto: privat
Suayip Günler, Foto: privat

Herr Günler, versteht sich Türkgücü Kassel als Migrantensportverein?

Wenn Sie von Integration sprechen: Warum fragen Sie mich dann, ob wir ein Migrantensportverein sind? Wir wollen nicht in diese  Klischees reingezwungen werden. Migrantensportverein bedeutet für mich eine Diskriminierung, das ist eine Schublade. 

Was genau stört Sie daran?

Ich frage mich, wer der Migrant sein soll, den man integrieren will: Mein Sohn, der hier geboren ist und Deutsch als Muttersprache hat? Wenn man von Migranten spricht, meint man doch eigentlich Asylbewerber – Zuwanderung erlauben die Gesetze doch nur solchen Ausländern, die deutsch sprechen. Man kann uns aber nicht mit Asylbewerbern vergleichen, Leute wie ich leben seit über 40 Jahren hier. Einer unserer Mitbegründer hat mal gesagt: „Wir sind damals gekommen, um Geld zur verdienen und wieder nach Hause zu fahren. Aber inzwischen werden hier unsere Kinder zu Grabe tragen. Und wir werden immer noch nicht als Teil Deutschlands akzeptiert.“ 

Wie sieht sich Türkgucü Kassel selbst?

Wir sind in den 70er Jahren entstanden. In unserer Satzung steht nicht, dass wir nicht Deutsche aufnehmen und wir sind nach deutschen Gesetzen gegründet. In Folge dessen sind wir ein deutscher Verein mit einem ausländischen Namen. Oder, wenn Sie so wollen, ein internationaler Verein, der seine Wurzeln in Deutschland hat. 

Sie erwähnen den Namen: Legt es das „Türkgücü“ nicht nahe, Sie als Verein mit türkischer Identität wahrzunehmen, eben als Migrantensportverein nach DOSB-Definition?

Der Name hat mit der Situation in den 70er Jahren zu tun. Die damaligen Gastarbeiter haben sich nach eigenen Treffpunkten und Aktivitäten gesehnt – sie konnten ja nicht genügend Deutsch, um am sozialen Leben teilzunehmen. Damals waren wir Ausländer, die irgendwann wieder zurück wollten, damals gab es so etwas wie Cliquenbildung. Aber das ist lange vorbei. Man sollte endlich aufhören, Fronten aufzubauen, sondern akzeptieren, dass dieses Land ein Einwanderungsland ist, dass es hier viele verschiedene Menschen gibt. Wir leben schon so lange hier, dass wir ein Teil Deutschlands geworden sind. Als Özil gegen die Türkei ein Tor geschossen hat, haben wir uns genauso gefreut wie als ein Türke getroffen hat. 

Der Name ist also reine Tradition.

Natürlich. Wir hatten im Lauf der Jahre Deutsche, Italiener, Spanier, Araber, Russen im Verein. Heute ist ungefähr jedes vierte Mitglied Nichttürke. Aber es ist schon so, dass wir noch offener werden wollen, weil hier in der Nordstadt sehr viele Ausländer leben. Der Vorstand hatte schon mal vorgeschlagen, uns in SV Nordstadt Kassel umzubenennen, aber das wurde abgelehnt – das Türkgücü ist halt ein Teil unserer Identität als Verein. Wir haben dann noch den Verein Kultur, Integration, Sport und Soziales Nordstadt Kassel gegründet, kurz KISS. Wir hoffen, auf diesem Umweg an nichttürkische Mitglieder ranzukommen. 

Nicht alle sogenannten Migranten scheinen sich mit Deutschland zu identifizieren. Beim erwähnten EM-Qualifikationsspiel in Berlin wurde Özil von vielen Zuschauern türkischer Herkunft ausgepfiffen. Besteht nicht vorläufig eine kulturelle Kluft, über die man diskutieren muss?

Eins vorweg: Es gibt natürlich Holzköpfe, auf allen Seiten. Aber ich frage Sie: Was müssen meine Kinder tun, um nicht mehr als Migrant angesehen zu werden? Diejenigen Türken, die kein Deutsch können, gehören zur älteren Generation, die dachte, nach ein paar Jahren zurückzugehen; die können Sie jetzt, nach Jahrzehnten, schwer integrieren. Aber unsere Jugendlichen sprechen besser Deutsch als Türkisch! Ich will ihnen eine Geschichte erzählen. Mein Sohn spielt bei uns in der B-Jugend, bei einem Spiel wurden unsere Sportler beschimpft, „das sind eben Türken“ und so weiter. Mein Sohn hat sich mitten im Spiel umgedreht und gesagt: „Ich bin hier geboren, ich habe einen deutschen Pass, ich gehe mit ihrem Sohn in eine Klasse und helfe ihm bei Mathe. Und Sie beschimpfen mich als dummen Türken?“ 

Aber unterstellt der zugegeben theoretische, verallgemeinernde Begriff „Migrant“ denn per se ein Integrationsdefizit? Geht es in der öffentlichen Debatte nicht eher um andere Personen als Ihren Sohn? 

Durch Worte wie „Integration“ und „Migranten“ fühlen sich, wie Sie das nennen, Jugendliche „mit türkischem Hintergrund“ zu uns hingezogen. Ihre Muttersprache ist Deutsch, aber sie fühlen sich ausgegrenzt, sie sagen, wenn sie uns nicht haben wollen, dann gehen wir dahin, wo wir akzeptiert werden.  Wo fängt Integration an, wo hört sie auf? Bin ich integriert, wenn ich in einer Hand eine Bratwurst halte und in der anderen ein Bier? Statt Integration brauchen wir Akzeptanz. 

Oder man versteht den Begriff anders: „Integration durch Sport“ will ja nicht kulturelle Anpassung, sondern gegenseitige Öffnung. Akzeptanz ist Voraussetzung.

Ja, so sollte man Integration häufiger verstehen. Wir arbeiten ja seit 2010 als hessischer Stützpunktverein in dem Bundesprogramm mit. Mit unserem Projekt „kulTOR“ zum Beispiel, wollen wir erreichen, dass sich die Menschen, die in Kassel-Nordstadt leben, zunächst sportlich, aber auch kulturell begegnen. Dazu veranstalten wir ein Stadtteilfest, das künftig jährlich stattfinden und zur Verständigung der Bevölkerungsgruppen in der Nordstadt beitragen soll. Zu diesem „kulTOR“-Fest werden wir auch in Deutschland beziehungsweise in Kassel aufgewachsene Fußballprofis wie Ömer Erdogan, Özer Hurmaci, (türkische A-Nationalspieler, d. Red.) oder Yunus Malli (deutscher U-19-Nationalspieler) einladen. 

Wie kommt dieses Projekt, wie überhaupt Ihre Arbeit im Umfeld an?

Wir haben 2011 nicht umsonst den Oddset-Zukunftspreis des LSB Hessen erhalten. Im letzten Jahr sind auch viele Bewohner angrenzender Stadtteile und sogar aus dem Landkreis Kassel zu „kulTOR“ gekommen. Ich muss auch die Presse sehr loben: Die Vor- und Nachberichterstattung in örtlichen Zeitungen war super. Bei der Kommune gab es am Anfang etwas Skepsis gegenüber den neuen Personen und Ideen, aber ich hoffe, das wird in diesem Jahr und in Zukunft besser. 

Wie ist die Situation im Sport?

Wir haben nicht überall Akzeptanz gefunden und sind auch von einigen Vereinen ignoriert worden. Sie denken, wir könnten eine Konkurrenz werden, weil wir sehr gute Arbeit machen – das können wir nur deshalb, weil wir als Nichtdeutsche jeden Tag Integration leben und erleben. 

Was heißt das: Integration leben?

Das heißt für mich, dass wenn ich einen Deutschen im Verein habe, der Schweinefleisch isst und Bier trinkt, er das bei uns bekommt. Ganz ehrlich: Wenn ein Muslim oder eine Muslimin in einen anderen Verein geht, um am sozialen Leben teilzunehmen, dann wird ihm selten Rindfleisch angeboten – oder Rindfleisch mit Schweinefleisch gemischt. Wir müssen doch akzeptieren, dass wir unterschiedlich sind! Wenn du kein Schweinefleisch ist, bekommst du von uns in einer Extrapfanne eine Rindswurst gebraten: Solange es solches Entgegenkommen nicht gibt, kann keine Integration stattfinden.

(Quelle: DOSB / Das Interview führte Nicolas Richter)


  • Suayip Günler, Foto: privat
    Suayip Günler, Foto: privat