„Verdrängte Angst macht dumm“

Charly Graf hat die Gewalt des Lebens erfahren: als Kind, als Boxprofi, als Mann des Milieus. Jetzt gibt er diese Erfahrungen weiter. Ein Gespräch über Faustkampf und das Fehlen von Normalität.

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Der ehemalige Boxer arbeitet mittlerweile für die Stadt Mannheim.

Interview: Nicolas Richter

 

Herr Graf, warum ist Boxen ein guter Sport, um Kinder und Jugendliche das Ankommen in der Gesellschaft zu erleichtern?

Wenn man im Ring steht, ist das eine Stresssituation. Und die Kinder und Jugendlichen sind gezwungen, unter diesem Stress Regeln einzuhalten. Das ist für die meisten beileibe keine Selbstverständlichkeit. Deshalb setze ich sie dem bewusst aus, damit sie es lernen.

Sie haben mal gesagt: „Gewalt ist für Feiglinge“. Ist Faustkampf etwa keine Form von Gewalt?

Faustkampf ist zunächst mal Sport, das heißt es gibt Regeln, die die Sportler respektieren. Darin liegt für mich der Unterschied zur Gewalt, das ist etwas ganz anders. Anspannung und Körperkontakt gibt es ja in den meisten Sportarten.

Sie arbeiten für die Stadt Mannheim. Wie funktioniert Ihr Training für Jugendliche?

Ich bin überwiegend an Schulen in sozialen Brennpunkten. Da mache ich Boxtraining und danach setzen wir uns hin und sprechen über Gewalt. Da entwickeln sich dann immer Diskussionen, in denen ich ihnen eben erzähle, dass Gewalt etwas für Feiglinge ist. Ich kann dazu ja Beispiele aus meinem eigenen Leben liefern. Ich bin aber auch in Hochschulen oder bei Sozialvereinen in ganz Deutschland und halte da Vorträge.

Wenn Sie von Ihrem Leben sprechen: Sie sind in Mannheim in armen Verhältnissen, mit Rassismus und Gewalt groß geworden, später waren sie im Rotlichtmilieu unterwegs. Wie nah ist das dran an der Lebenswelt der Jugendlichen, mit denen Sie arbeiten?

Na ja, es gibt schon Parallelen. Ich kenne ja zum Beispiel meinen Vater nicht, und vielen dieser Jugendlichen fehlt auch ein Elternteil, meistens der Vater. Und dann die Umgebung: Ich komme aus dem Stadtteil Waldhof und bin ohne jede zivilisierte Sozialisation aufgewachsen. Das ist bei vielen auch ein Punkt: Sie hatten keine Sozialisation, deshalb kann man sie genau genommen auch nicht „resozialisieren“. Man muss erstmal einen Anfang machen.

Betrifft das Jungs und Mädchen gleichermaßen?

Es kommen auch einige Mädchen zu meinen Veranstaltungen, aber das betrifft besonders die Jungs.

Wie erreichen Sie die Jugendlichen, wie machen Sie sie aufmerksam?

Indem ich zum Beispiel über meine Ängste als Jugendlicher rede und erkläre, wie diese Ängste zur Gewaltbereitschaft geführt haben. Verdrängte Angst macht dumm. Denn man braucht seine ganze Kraft, die Ängste zu kaschieren. Diese Kraft fehlt dann bei der Konzentration auf das Wesentliche, auf Schule und Ausbildung. Und durch die geistige Begrenztheit, die man so erfährt, ist der Weg zur Gewalt ein ganz, ganz kurzer.

Man denkt nicht klar, weil man aufs Überspielen der Angst fixiert ist?

Man steht einfach ständig unter Druck. Da kann man nicht reflektieren.

Sie selbst hatten früh Erfolg: mit 17 Profi, Siege in den ersten sechs Kämpfen. Aber die erste Niederlage hat Sie umgehauen, Sie sind ausgestiegen. War das der Druck, der damals alles kippen ließ?

Also, gekippt … (zögert) – gekippt ist mein Leben viel früher. Beziehungsweise gab es kein Kippen, keinen Bruch, denn es gab gar keine „Normalität“. Es wäre erstaunlich gewesen, wenn ich ein Leben wie andere geführt hatte. Was damals passiert ist, war durch meine Biografie vorgegeben.

Ist der Weg einiger Kinder, mit denen Sie arbeiten, ebenfalls vorgegeben?

Bei manchen ist der Weg vorgezeichnet, aber nicht so krass wie bei mir. Da spielen ja viele Faktoren eine Rolle. In meiner Jugend in den 50er Jahren hat noch die Generation gelebt, die sich Auschwitz erdacht hat; das war ein sehr rassistisches Umfeld, anders als heute.  Andere Faktoren wirken immer noch, das erkenne ich auch an. Aber immer mit dem Hinweis, dass das kein Alibi sein darf, gewalttätig zu werden. Man muss auch aus dieser Situation etwas machen.

„Es ist nie zu spät, etwas zu ändern“, hat Ihr früherer Konkurrent Thomas Classen 2012 gesagt; damals übergab er Ihnen den Meisterpokal, den er 1985 nach einem offensichtlichen Fehlurteil gegen Sie gewonnen hatte. Stimmt das, kann man immer etwas ändern?

Das kann man, das kann man wirklich. Es ist natürlich ein langer Prozess, aber irgendwann wird jeder schlauer. Es kommt darauf an, zu welchem Preis. Bei mir waren es zehn Jahre Gefängnis, die hätte ich mir gern gespart. Das sage ich den Kindern, damit sie nicht die gleichen Fehler machen.

Ihre eigenen Erfahrungen im Boxen entsprechen dem Klischee: ein rotlichtnaher Sport, in dem es nicht immer fair zugeht, siehe der Kampf um die Deutsche Meisterschaft damals. Dieses Bild ist überholt, oder?

Wann waren Sie das letzte Mal bei einem Boxkampf?

Bei einem Profiboxkampf? Noch nie.

Wenn Sie mal zu den Profis gehen, sehen Sie, dass sich zumindest das Umfeld nicht verbessert hat. Die Mehrheit der Leute, die am Ring sitzen, sind immer noch zwielichtige Gestalten. Die Fassaden sind sauberer, weil das Fernsehen dabei ist. Aber sonst? Das Geschäft läuft, und wenn das Geschäft läuft, wird das andere ignoriert. Aber das bezieht sich nicht nur aufs Boxen, das ist überall so. Und im Amateurboxen ist es sowieso ganz anders.

Vielen Kaderathleten im Boxen scheint der Sport die soziale Integration erleichtert zu haben.

Auf der Amateurebene wird seriös gearbeitet. In den Vereinen und Verbänden sind die Trainer, die Verantwortlichen mit Leib und Seele dabei. Das war früher schon so, auch wenn vielen die Zeit und die Muße fehlte, sich um die soziale Entwicklung zu kümmern. Auf jeden Fall muss man zwischen Amateuren und Profis wirklich trennen.

Reine Profis werden heute die wenigsten. Ist Boxen überhaupt noch der klassische Aufsteigersport?

Ich glaube, Boxen gehört schon noch dazu. Aber im Fußball kommen auch die meisten Kinder aus unteren Schichten, und Sport überhaupt ist heute ein Mittel zum Aufstieg. Wobei das Grenzen hat. Im Golf wird es keinen Masters-Sieger geben, der aus einem Ghetto kommt. Aber gut, man hat auch nie geglaubt, dass ein Schwarzer mal US-Präsident wird.

 

ÜBER CHARLY GRAF:

1951 geboren, wuchs Charly Graf als uneheliches Kind eines schwarzen US-Soldaten und einer Deutschen in einer Mannheimer Barackensiedlung auf; ärmste, rassistische Verhältnisse.  Schon mit 17 wird das große Talent Profi, gewinnt zunächst, fällt nach der ersten Niederlage aber ins Rotlichtmilieu. Graf verbringt Jahre im Gefängnis, unter anderem wegen Glücksspiels, Raubs, Zuhälterei. Anfang der 80er freundet er sich in Stammheim mit dem Ex-Terroristen Peter-Jürgen Boock an, der sich zuvor von der RAF losgesagt hat. Er macht ihn körperlich fit und wird im Gegenzug literarisch und politisch gecoacht: Diesen Deal beschreiben der Journalist Armin Himmelrath und Charly Graf in „Kämpfe für dein Leben“, der 2011 erschienenen Biografie des heutigen Jugendsozialarbeiters. Boock bewegt Charly Graf wieder zum Sport. 1985, quasi aus der Haft heraus, gewinnt dieser die Deutsche Schwergewichtsmeisterschaft.


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    Der ehemalige Boxer arbeitet mittlerweile für die Stadt Mannheim.
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    Charly Graf (rechts) in seiner aktiven Zeit: 1985 wurde er Deutscher Meister im Schwergewicht.