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Mit der Olympiateilnahme 2016 hat der Boxer Serge Michel sein größtes Ziel erreicht. Sieben Jahre zuvor saß er noch im Gefängnis, und das nicht nur einmal. Die Geschichte eines Aufsteigers.

DBV
Serge Michel (rechts), glücklich und erschöpft nach dem Sieg bei der Deutschen Meisterschaft

Text: Nicolas Richter

 

Ohne seine Frau wäre rein gar nichts gegangen; Serge Michel erwähnt die Mutter seiner Kinder zuallererst und immer wieder. Auch sein Vater, zugleich sein Trainer, habe ihn „auf dem kompletten Weg“ unterstützt, unter anderem finanziell. Überhaupt war die Familie das Wichtigste. Aber da war auch der Direktor seiner früheren Schule, der Serge Michel die zweite Chance gab und den Realschulabschluss ermöglichte – im nicht ganz so zarten Alter von 23. Und auch in anderen Institutionen schenkten ihm Menschen Vertrauen; beim TuS Traunreut natürlich, seinem Verein seit Kindertagen, ebenso beim Deutschen Boxsport-Verband (DBV) und der Bundeswehr, die Michel als Sportsoldat beschäftigt.

Ohne solche Menschen, das weiß Serge Michel ganz genau, hätte er diese erstaunliche Entwicklung kaum vollziehen können: aus dem Jugendgefängnis in den Spitzensport. Ihnen, sagt er, wollte und will er etwas zurückgeben, in Form von Erfolgen.

Serge Michel, geboren 1988, ist einer der besten Boxer dieses Landes. Im Oktober 2014 wurde der gebürtige Russe Deutscher Meister; bei den Olympischen Spielen 2016 in Rio schließlich trat er für Deutschland im Halbschwergewicht an. Seine Geschichte ist im Kern typisch für das Boxen hierzulande: Einwanderer vollzieht sportlichen Aufstieg und soziale Integration zugleich.

„Nicht wenige Migranten in unseren Kadern kommen aus schwierigsten Verhältnissen und haben sich enorm entwickelt. Sie sind absolute Vorbilder, höflich, diszipliniert und bodenständig“, sagt Martin Volke, Leistungssportreferent des DBV. Struktur scheint dabei ein Zauberwort zu sein: An den Olympiastützpunkten seien die jungen, von ihren Familien entfernten Athleten in feste Tagesabläufe eingebunden und rund um die Uhr betreut, auch, so Volke, in Sachen duale Karriere: „Viele, die nur einen Hauptschulabschluss hatten, machen ihr Abitur nach oder eine Ausbildung bei renommierten Unternehmen.“

Abschluss nachgemacht, höflich, diszipliniert, bodenständig, übrigens auch aufmerksam und reflektiert: All das trifft auf Serge Michel zu. Aber seine Zeit in Jugendhaft und was sich daraus entwickelte, machen den Halbschwergewichtler vom Alpenrand zu einem besonderen Fall, auch im Aufsteigersport Boxen.

 

Keinen Bock mehr auf Schule und dann kam die Leere

Serge Michel hat in einer Phase seines Lebens „richtig viel Mist gebaut“, sagt er. Diese Phase ist lange her und vor allem lange abgeschlossen. Aber nicht verdrängt. „Das gehört zu meinem Leben. Ich bin alles andere als stolz darauf, aber ich kann es nicht mehr ändern.“

Es begann mit 15. Er hatte schon seit der fünften Klasse keinen Bock mehr auf Schule gehabt, nun spiegelte sich das: Die Schule hatte keinen Bock mehr auf ihn, er musste sie verlassen, ohne Abschluss. Woher rührte seine  Verweigerung? Serge Michel hat nur eine vage Vermutung. Er war als Sechsjähriger mit seiner Familie eingewandert, er hatte einen kulturellen Bruch erlebt. „Die Erziehung in Russland ist härter als hier“, sagt er. „Denn das Leben ist härter.“ Zumal da, wo er aufwuchs: Sachalin, eine große Insel im russischen Fernen Osten, nahe Japan.

Nach der Schule kam die Leere. Serge Michel hatte nix zu tun, wollte sich den Frust vom Leib halten, auch den sportlichen: Bei TuS Traunreut war er in der von seinem Vater 1998 gegründeten Boxabteilung Bayerischer Kadettenmeister geworden, aber zu mehr hatte es nie gereicht; ein anderer Süddeutscher seines Jahrgangs war stärker. So hing der Teenie mit Kumpels ab, sie begannen mit dem Mist, keine sehr schweren Delikte, aber viele. Irgendwann wurde er erwischt: 30 Monate Jugendstrafe, von denen er 18 absaß, bevor er auf Bewährung rauskam. „Der erste Gefängnisaufenthalt hatte keine abschreckende Wirkung“, sagt er, „den habe ich nicht richtig ernst genommen, da kam ich mir noch cool vor“.

Vom pubertären Mr. Cool zum Mann und Meister mit Manieren: So ein Prozess vollzieht sich langsam, vielleicht in Schüben, gewiss nicht von jetzt auf gleich. Nach gut anderthalb Jahren mischten sich Alkohol und Adrenalin nochmal folgenreich: Rangelei, acht Monate Jugendhaft, die Serge Michel nun als Vater auf sich nehmen musste: Kurz zuvor war sein Sohn geboren worden. „Da wusste ich, dass ich etwas ändern musste“, sagt er – der erste Schub. Er trainierte wieder, bastelte sich einen kleinen Sandsack für die Zelle, setzte sich Ziele. Im September, nur fünf Monate nach seiner Entlassung, erreichte er das erste: Bayerischer Meister der Männer.

Dem Titel folgte der Tiefschlag, drei Tage danach. Gerichtsverhandlung, noch mal drei Monate: eine Auseinandersetzung mit einem Mitgefangenen in Haft. „Das war im wahrsten Sinne des Wortes eine geschlossene Gesellschaft, in der junge Männer eng aufeinandersitzen und jeden Tag etwas passierte. Wir sind halt erwischt worden.“ Er sagt das zur Erklärung, „nicht zur Entschuldigung“.

 

Arbeit und Struktur

Er wusste nun, wo's lang geht. „Ich habe gemerkt, dass ich meinen Weg im Sport machen will, dass ich dranbleiben muss“, sagt er. Struktur ist das Zauberwort: Serge Michel wollte nicht „auf der Straße landen“, er mied jetzt das alte Umfeld, um im neuen anzukommen: dem Sport, in dem es Regeln und Strukturen gibt und man es „immer mit denselben Menschen zu tun hat“, so Michel.

Im April 2010 kam er raus. Tagsüber arbeitete er als Hausmann – seine Frau verdiente das Geld –, davor, danach, dazwischen trainierte er. Wieder wurde er im September Bayerischer, kurz darauf auch Süddeutscher Meister; bei der „Deutschen“ im Dezember kam er auf Rang drei. Es waren die bis dahin größten Erfolge seines Vereins und damit seines Papas, dem Traunreuter Cheftrainer. Anfang 2011 begann Serges Karriere als Kaderathlet des DBV.

Zuvor war er auf das Thema Schule zurückgekommen. Ein Tipp des Arbeitsamts brachte ihn in Kontakt zu einem Mehrgenerationenhaus, mit dessen Hilfe er sich auf die Prüfung zum qualifizierten Hauptschulabschluss vorbereitete; er legte sie an seiner alten Schule ab, als Externer. Anschließend suchte er das Gespräch mit dem Direktor, der ihm vertraute und natürlich im Bilde seiner sportlichen Erfolge war – die zweite Chance. Serge Michel nahm in einer zehnten Klasse Platz, ein paar Tage nach seinem 23. Geburtstag, als zweifacher Vater, wie sein Klassenlehrer. Im Sommer 2012 machte er die Mittlere Reife nach, Note 2,3.

Es folgte der letzte Schub: Mit Unterstützung des Verbandes wurde er im Januar 2013 Sportsoldat, mit Unterstützung der Bundeswehr wiederum wurde er im Oktober 2014 Deutscher Meister. Schließlich: Rio 2016. Als Spitzensportler ist Michel oft tage-, manchmal wochenlang nicht zu Hause. Seine Frau betreut die inzwischen drei gemeinsamen Kinder. Denn nur mit Unterstützung seiner Frau, Michel betont das noch mal, war und ist all das möglich.


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