„Sie sollen den Sport vermissen“

3300 Einwohner im Dorf, 7000 Mtglieder im Verein: Eike Holtzhauer, zweiter Vorsitzender des TSV Todtglüsing, über Integrationserfolge durch Wertschätzung.

77 und kein bisschen alt - jedenfalls nicht im Kopf: Rainer Holtzhauer, Todtglüsinger SV (Quelle: Todtglüsinger SV)
77 und kein bisschen alt - jedenfalls nicht im Kopf: Rainer Holtzhauer, Todtglüsinger SV (Quelle: Todtglüsinger SV)

Herr Holtzhauer, was versteht man beim TSV Todtglüsingen unter „Integration“?

Unser Verein hat dazu eine offizielle Haltung: Wir möchten allen Menschen Angebote  machen, die schwer Zugang zur sozialen Gemeinschaft haben. Das betrifft Migranten, finanziell Bedürftige oder Menschen mit Behinderung, aber zunehmend auch übergewichtige Kinder oder Ältere. Es klingt komisch, wenn ich sage, ich möchte einen verknarzten früheren Oberregierungsrat „integrieren“. Aber ein bisschen ist es so – sie können manchmal mit den Händen greifen, wie sich auch solche Menschen ausgegrenzt fühlen. Wir versuchen, ihnen und allen anderen Lust auf Sport zu machen.

Wie schafft man das?

Die Grundlage sind Übungsleiter, die hohe soziale Kompetenz haben, aber auch fachlich qualifiziert sind – schön Reden hilft ja nicht, sie müssen die Leute auch richtig anleiten.

Solche Übungsleiter wachsen nicht auf den Bäumen.

Stimmt. Deshalb geht es stark um die Gesamtatmosphäre im Verein, denn die überträgt sich zwanglos und kann ein Umdenken in Gang setzen. Da müssen bestimmte Werte beherzigt werden. Ein Beispiel: Im Fußball ist der Leistungsgedanke immanent, bei allen Beteiligten, auch bei den Schwächeren, die es in jeder Gruppe gibt. Im Spiel sitzen diese Kinder oft auf der Bank und sind frustriert – genau das wollen wir nicht haben. Da greifen wir notfalls von oben ein und sagen, da muss sich was ändern. Der bessere Weg ist natürlich, dass der Trainer solche Aspekte von vornherein berücksichtigt. 

Das mit der Gesamtatmosphäre scheint zu gelingen. Todtglüsingen hat 3300 Einwohner, Ihr Verein aber 7000 Mitglieder. 

Da muss man ein bisschen genauer hinschauen. Sehr viele der 7000 Mitglieder kommen aus der Samtgemeinde Tostedt.

Die hat auch nur 13.000 Einwohner.

Es geht ja noch weiter. Wir schauen ab und zu, woher unsere Mitglieder kommen. Im vergangenen Sommer waren das 100 Orte im Umkreis von 50 bis 60 Kilometern. Aber es stimmt: Wir wollen ein Treffpunkt für die ganze Dorfgemeinschaft sein. Die Leute sollen es vermissen, wenn sie nicht zweimal die Woche ihren Sport haben.

 

70 Sportarten, 7000 Mitglieder

Eike Holtzhauer, Jahrgang 1937, ist seit – Achtung – 44 Jahren der Zweite Vorsitzender des SV Todtglüsingen. Der niedersächsische Großverein macht auf 17 Anlagen rund 70 Angebote, darunter Hundesport, Reiki oder Gorodki, das russische Wurfspiel. Die Mitgliederzahl von zurzeit circa 7000 schwankt um etwa 15 Prozent pro Jahr, im Endeffekt stieg sie bisher aber immer an. Dem ehrenamtlichen Vorstand, in dem Holtzhauer das Integrationsthema verantwortet, sitzt seit 2013 Renate Preuß vor. Neben einem Geschäftsführer ist auch eine handvoll der insgesamt rund 130 Trainer hauptamtlich beschäftigt. Sie haben zum Teil ebenso Migrationshintergrund wie die zwei (weiblichen) Integrationsbeauftragten des Vereins und, so Holtzhauers Schätzung, 16 bis 17 Prozent der Mitglieder – ein höherer Anteil als in der „Samtgemeinde“ Tostedt (13,1 Prozent).

 

Konfliktklärung im „Männergespräch“

Sie sind seit 2007 Mitglied im Programm „Integration durch Sport“. Haben Sie damals begonnen, Menschen mit Migrationsgeschichte anzusprechen?

Ja. Ein paar hatten noch frische Schussverletzungen! Irgendwann waren da 25, 30 arabische Männer in unserem damaligen ziemlich kleinen Kraftraum – es gab einen Meinungsführer in der Gruppe, der hat die anderen mitgebracht. Wir haben uns gefreut, aber irgendwann wurde es heftig: Sie sprachen sehr laut Arabisch, und später haben ein paar nach dem Training draußen die Mädchen angebaggert. Da haben wir ihnen sehr deutlich gemacht, dass das so nicht geht.

Kriegsflüchtlinge?

Ja. Ein paar hatten noch frische Schussverletzungen! Irgendwann waren da 25, 30 arabische Männer in unserem damaligen ziemlich kleinen Kraftraum – es gab einen Meinungsführer in der Gruppe, der hat die anderen mitgebracht. Wir haben uns gefreut, aber irgendwann wurde es heftig: Sie sprachen sehr laut Arabisch, und später haben ein paar nach dem Training draußen die Mädchen angebaggert. Da haben wir ihnen sehr deutlich gemacht, dass das so nicht geht.

Wie?

Das war gar keine große Sache – ein Männergespräch auf kurzem Dienstweg sozusagen. Danach haben sie uns eingeladen und wir haben alle zusammen Tee getrunken, das war eine richtige Feier. Man muss auch sagen: Unter unseren alten Mitgliedern gab es welche, die sagen, das sei ihnen lästig, die Sprache sei doof und so. Denen haben wir genauso klar gemacht, dass wir niemanden wegschubsen, egal wie er ist oder woher er kommt. Und dass sie das akzeptieren oder falsch sind bei uns.

Fortschritt durch Fortbildung

Wie kamen Sie von „niemanden wegschubsen“ zur aktiven Ansprache?

Das war eine vielgliedrige Entwicklung. Sie hat auch damit zu tun, dass wir ab 2007 dreimal Gruppen zu Kursen des Programms „Integration durch Sport“ geschickt haben; den letzten haben wir sogar selbst veranstaltet. Wir hatten danach 43 „Integrationslotsen“ im Verein, von denen noch etwa 25 aktiv sind, zum Beispiel als Ansprechpartner für interkulturelle Fragen innerhalb ihrer Gruppe – jetzt, im Dezember haben wir sie in Eigenregie fortgebildet, zur Auffrischung. Der Verein im Ganzen hat durch diese Maßnahmen viel gelernt. Wir haben das Thema Interkulturalität nochmal anders begriffen.

Was heißt das in der Praxis?

Nehmen Sie die Zuwanderer aus der früheren GuS. Das sind heute 1300 Menschen in Tostedt, also 10 Prozent der Bevölkerung und knapp 80 Prozent aller Migranten. Darunter sind Nichtgläubige, aber auch tief Religiöse. Die Religiösen haben am Anfang sehr für sich gelebt, gerade die Frauen. Die Atheisten kamen zwar in den Verein, aber manche haben untereinander Russisch gesprochen, das war grenzwertig – es stört die Chemie, wenn ein Teil einer Gruppe nicht weiß, was die anderen reden. Solche Probleme haben wir nicht mehr.

Wie haben sie sie gelöst?

Schon auch durch klare Aufforderung der Trainer, Deutsch zu sprechen. Aber vor allem durch eine nachhaltige Freundlichkeit. Wir haben ihnen gezeigt, dass wir froh sind, sie bei uns zu haben, dass wir sie wertschätzen.

Und die orthodoxen Frauen?

Wir bieten zum Beispiel einen Schwimmkurs an, der unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfindet. Da nehmen auch Musliminnen Teil, aber vor allem Frauen aus Russland. Und zu unserer Vereinsanlage an einem Baggersee gehören Gorodki-Felder. Für viele Menschen aus Russland, der Ukraine oder Kasachstan ist das wie ein Stück Heimat.

Wie entstehen solche Initiativen? Verfolgen Sie eine integrative Gesamtstrategie?

Nein. Wir wollen ein Verein für alle sein, aber das heißt nicht, dass wir ausgefeilte Konzepte für jede Zielgruppe haben. Die Idee zum Migrantinnen-Schwimmkurs zum Beispiel hatte eine Frau aus dem Verein, die als ehrenamtliche Koordinatorin für Integration bei der Samtgemeinde arbeitet; sie hat das mit einer russischsprachigen Trainerin von uns auf den Weg gebracht. Unser Ziel ist es, offen zu sein: Wir hören genau hin, um möglichst alle Ideen aufzunehmen, die wir in den Abteilungen erkennen, auch wenn sie versteckt geäußert werden. Ich glaube, darin sind wir mittlerweile ganz gut.

Das Interview führte Nicolas Richter


  • 77 und kein bisschen alt - jedenfalls nicht im Kopf: Rainer Holtzhauer, Todtglüsinger SV (Quelle: Todtglüsinger SV)
    77 und kein bisschen alt - jedenfalls nicht im Kopf: Rainer Holtzhauer, Todtglüsinger SV (Quelle: Todtglüsinger SV)