„Inklusion ist en vogue“

Karl Quade, Vizepräsident Leistungssport beim Deutschen Behindertensportverband (DBS), spricht im Interview über feine begriffliche Unterschiede und Vielfalt im paralympischen Sport.

Karl Quade: Inhalte sind wichtiger als Begriffe
Karl Quade: Inhalte sind wichtiger als Begriffe

Herr Quade, in Deutschland wird meist ein Unterschied gemacht zwischen „Integration“, das eher im Migrationskontext verwendet wird, und dem vermeintlich korrekteren „Inklusion“ , das oft die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung meint ...

Das hat alles mit einem Missverständnis zu tun.

Wie meinen Sie das?

Damals, als die UN-Behindertenrechtskonvention das Licht der Welt erblickte (die „BRK“ wurde  2009 wirksam, d. Red.), war in der Originalversion von „inclusion“ die Rede. Das Problem in Deutschland war, dass dieses Wort hier keine Entsprechung hatte. Man sagte bis dato „Integration“ beziehungsweise in den Behindertensportverbänden auch „Teilhabe“. „Integration“ ist im englischsprachigen Raum aber für das Migrationsthema reserviert. Also hat man im Deutschen einfach das „c“ durch ein „k“ ersetzt und den Begriff „Inklusion“ geboren, der angeblich für eine neue Philosophie steht und ein etwas weiterreichendes Ziel meint als „Integration“. Mir erscheint das ein bisschen als alter Wein in neuen Schläuchen.

Sie sehen keinen entscheidenden Bedeutungsunterschied?

Ich finde den nicht so dolle. Das werden andere ganz anders sehen, aber für mich als Leistungssportverantwortlichen im DBS geht es darum zu handeln, und zwar im Interesse der einzelnen Athleten. Unter welcher Überschrift das geschieht, ist mir nicht so wichtig.

In den Verbänden hat sich „Inklusion“ durchgesetzt, oder?

Die UN-Behindertenrechtskonvention hat in Deutschland ja Gesetzescharakter, dem kann sich der DBS natürlich nicht entziehen. Außerdem gibt es ein gemeinsames Informationspapier zum Thema Inklusion, das federführend vom DOSB verfasst wurde, zusammen mit dem DBS, Special Olympics Deutschland und dem Deutschen Gehörlosensportverband. Deshalb ist „Inklusion“ en vogue

Bezieht das das Migrationsthema Ihrer Wahrnehmung nach ein? Ist kulturelle Integration ein Thema im paralympischen Spitzensport?

Schon. Es gibt ja etliche Beispiele von Migranten, die sich im Leistungssport durchgesetzt haben.

Welche Sportarten und Namen fallen Ihnen da ein?

Uff ... (überlegt) Im Rollstuhlbasketball haben einige Nationalspieler türkische Wurzeln, in der Leichtathletik, zum Beispiel Ali Ghardoni, der noch in London gestartet ist, oder der junge Timor Huseni. In anderen Sportarten gibt es auch welche, unter anderem Barbaros Saylir im Sitzvolleyball. Aber wer im Einzelnen einen offiziellen Migrationshintergrund hat, kann ich Ihnen gar nicht sagen, weil wir das nicht exakt differenzieren. Unser Kriterium ist ja die deutsche Staatsbürgerschaft, und die ist zumindest bei Migranten der zweiten Generation meist gegeben, deshalb fällt uns deren Herkunft nicht auf. Das ist eher bei Menschen der Fall, die die Staatsbürgerschaft wechseln oder eine doppelte Staatsbürgerschaft haben. Da stellt sich dann die Frage, ob sie für die Nationalmannschaften startberechtigt sind.

Bei den Paralympics in Sotschi hatte von den 16 deutschen Athleten niemand  Migrationsgeschichte. Ist der paralympische Sport insgesamt weniger vielfältig als der olympische Ihrer Wahrnehmung nach?

Das ist schwer zu sagen. Im Nachwuchsbereich gibt es auf jeden Fall eine Diskrepanz zwischen Jungen und Mädchen – alle Talente, die ich kenne, sind Jungs, bei Mädchen scheint die Integration viel komplizierter zu sein. Wobei das mit der Behinderung und dem Leistungsniveau offensichtlich nichts zu tun hat, das ist ja im ganzen Sport so, gerade was muslimische Mädchen angeht. Ansonsten kann ich mir schon vorstellen, dass der Zugang zum Sport für Migranten mit Behinderung etwas schwieriger ist, viele haben vielleicht andere Sorgen und auch Ängste. Wobei der Sport zum Beispiel bei Flüchtlingen sicher eine Menge bewirken könnte.

Mit Gold und Konstanz

Drei Jahrzehnte schon ist Karl Quade im Deutschen Behindertensportverband engagiert, seit 1995 als Vizepräsident Leistungssport. Ein Jahr später nahm er in Atlanta erstmals die Rolle als Chef de Mission der Deutschen Paralympischen Mannschaft ein, die man ihm auch bei allen darauffolgenden Spielen übertrug, zuletzt 2014 in Sotschi. Als Aktiver nahm der frühere Standvolleyballer (der später auch Kugelstoßen betrieb) an drei Paralympics teil, 1988 in Seoul gewann er mit dem deutschen Team Gold. Quade, der im Dezember 60 Jahre alt wird, verdient sein Geld als Stellvertretender Direktor und Leiter des Fachbereichs Forschung und Entwicklung am Bundesinstitut für Sportwissenschaft in Bonn.

 

Die Zahl der Kriegsflüchtlinge in Deutschland ist gestiegen. Wie genau kann der Sport von Not und Gewalt gezeichneten Menschen helfen?

Ich habe keine direkte Erfahrung auf dem Gebiet, aber ich denke da nicht nur an die körperlich Verletzten, sondern zum Beispiel an Menschen mit posttraumatischem Belastungssyndrom. Das Thema beschäftigt den DBS zurzeit in einem Kooperationsprojekt mit der Bundeswehr, in dem es unter anderem um Lehrgänge für einsatzgeschädigte Soldaten geht. Diese Soldaten müssen nicht körperlich behindert sein, viele haben einfach mit psychischen Traumata zu kämpfen. Auf den Lehrgängen nutzen sie den Reha-Sport, um die anderen Maßnahmen zu unterstützen. Ich nehme an, viele Kriegsflüchtlinge haben vergleichbare Symptome, denen man vielleicht ähnlich begegnen könnte.

Was ist, wenn diese Menschen, von denen die meisten ja zumindest für eine Weile in Deutschland bleiben, das mit dem Sport fortsetzen wollen? Könnten die Vereine ihren Bedürfnissen gerecht werden?

Das ist so allgemein natürlich schwer zu sagen. Man müsste die Überführung in den organisierten Sport auf jeden Fall steuern und mit entsprechenden Programmen begleiten, das ist kein Bottom-Up-Prozess. Die Zielsetzung wäre es auf jeden Fall, solchen Menschen die Werte des Sports zu vermitteln und ihnen die Rückkehr in die Normalität zu erleichtern. Und zwar unabhängig davon, ob sie am Ende in Deutschland bleiben oder nicht.

(Quelle: DOSB / Das Interview führte Nicolaus Richter)


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