Flucht und Behinderung – Ein Projekt des Landessportverbandes für das Saarland
Seit 2014/15 engagiert sich der Landessportverband für das Saarland (LSVS) in besonderer Weise in der Integrationsarbeit. Mit Projekten wie Willkommen im Sport und Integration durch Sport konnten Netzwerke für Frauen mit Fluchterfahrung aufgebaut werden, die mittlerweile rund 1.000 Frauen im Saarland erreichen.

12.09.2025
Über Jahre hinweg haben sich aus diesen Strukturen Multiplikatorinnen entwickelt, die selbst als Übungsleiterinnen tätig sind und ihre Erfahrungen und Bedarfe direkt an den LSVS herantragen. Auf diese Weise entstand ein kontinuierlicher Dialog mit den Frauen, der 2020 zur Entdeckung einer bislang wenig beachteten Lebensrealität führte: Frauen mit Fluchterfahrung, die Angehörige mit Behinderung pflegen. Besonders bemerkenswert ist dabei, dass der LSVS damit den Blick auf eine fast unsichtbare Gruppe innerhalb einer ohnehin schon wenig sichtbaren Zielgruppe gelenkt hat. Der Zugang zu diesen Frauen stellt einen außergewöhnlichen Erfolg dar, der zeigt, wie tiefgreifend die jahrelange integrative Arbeit des LSVS wirkt. Gerade durch den direkten Austausch mit den Betroffenen wurde deutlich, welche besonderen Belastungen sie und ihre Angehörigen im Alltag tragen – eine Lebensrealität, die in den folgenden Berichten eindringlich zum Ausdruck kommt.
Viele von ihnen sind nicht nur für die Pflege eines behinderten Kindes oder Familienmitgliedes verantwortlich, sondern zugleich für mehrere weitere Kinder und den gesamten Haushalt. Sie schilderten, dass ihnen Zeit für sich selbst oder Begegnungen mit anderen gänzlich fehle, da sie ihre pflegebedürftigen Angehörigen fast nirgendwohin mitnehmen könnten. Auch Sprachbarrieren erschweren den Zugang zu Hilfsangeboten. Doch in den meisten Fällen können Betroffene keine Sprachkurse wahrnehmen, da sie zeitlich zu stark eingebunden sind und in den meisten Sprachkursen keine Kinderbetreuung vorgesehen ist – erst recht keine inklusive. Hinzu kommen Unsicherheiten im Umgang mit dem deutschen Gesundheits- und Pflegesystem, fehlende Mobilität und häufig auch traumatische Erfahrungen aus der Flucht. Eine Teilnehmerin brachte ihre Überforderung mit den Worten auf den Punkt: „Ich bin Mutter, ich bin Frau und ich bin Pflegerin, ich habe selbst Probleme. Das ist zu viel, ich kann einfach nicht mehr. Ich bin alleine und niemand kann mir helfen.“
Ein weiterer Aspekt, der die Situation verschärft, ist die kulturell geprägte Wahrnehmung von Behinderung. In vielen Herkunftsländern wird sie als Krankheit oder gar als Gottesstrafe verstanden. Für die betroffenen Familien bedeutet dies oftmals Scham und ein Gefühl des gesellschaftlichen Stigmas. Hilfe zu suchen oder offen über die eigenen Probleme zu sprechen, fällt daher besonders schwer. Wenn Betroffene dennoch Beratungsstellen aufsuchen, stoßen sie nicht selten auf weitere Hürden. Einrichtungen, die für Migration und Integration zuständig sind, fühlen sich mit dem Thema Pflege überfordert und verweisen weiter an klassische Pflegeberatungsstellen. Diese wiederum verfügen häufig nicht über die nötige interkulturelle Sensibilität oder die Möglichkeit, Übersetzungen anzubieten, und leiten die Betroffenen zurück in die Migrationsberatung. Dieses Kreislaufproblem führte dazu, dass viele der Betroffenen aufgeben und auf sich allein gestellt blieben.
Um dieser Situation zu begegnen, wurde 2022 das Projekt Flucht und Behinderung beim Landessportverband für das Saarland ins Leben gerufen. Finanziert zunächst durch den Sonderfonds des Programms Integration durch Sport, startete es mit einer Fördersumme von 32.600 Euro, die ausschließlich für Sachkosten vorgesehen war. Der LSVS entwickelte daraufhin ein Konzept, das auf niederschwellige und alltagsnahe Unterstützung setzt. Herzstück sind die sogenannten Erzählcafés – dezentrale Gruppenangebote, die den Frauen einen geschützten Raum für Austausch, Beratung, Bewegung und psychosoziale Entlastung bieten. Sie stellen einen niedrigschwelligen Zugang dar, um Vertrauen aufzubauen und Themen zu besprechen, die im Alltag sonst keinen Platz finden. Ergänzt werden die Treffen durch kurze Sporteinheiten wie Rückenstärkung, individuelle Pflegeberatungen mit Übersetzung (die bei Bedarf auch zu Hause im ländlichen Raum stattfinden), durch Workshops und Teambuilding-Maßnahmen sowie durch barrierefreie Vereinsbesuche, die erste Schritte in Richtung sportlicher Aktivität der Menschen mit Fluchterfahrung und Behinderung ermöglichen. Auch Sprachförderung spielt eine besondere Rolle: Viele Teilnehmerinnen profitieren von der Einführung in alltagspraktisches Deutsch sowie von Fachvokabular, das speziell auf die Pflege zugeschnitten ist.
Organisatorisch wird das Projekt von den Teams Integration durch Sport und Inklusion beim LSVS getragen. Lange Zeit geschah dies ausschließlich neben der regulären Arbeit, da es keine festen Personalstellen gab. Nach Auslaufen der Förderung durch den IdS-Sonderfonds wird das Projekt seit 2024 über Mittel des saarländischen Ministeriums für Arbeit, Soziales, Frauen und Gesundheit weitergefördert. 2025 konnte so eine 40-Prozent-Stelle für eine Projektreferentin geschaffen werden. Zusätzlich unterstützen zwei mehrsprachige Übungsleiterinnen die Arbeit, indem sie als Begleiterin, Übersetzerin und Vertrauensperson wirken, sowie eine auf Honorarbasis tätige Pflegeberaterin. Besonders die strukturelle Unterfinanzierung des Projekts stellte seit Beginn an eine Herausforderung in der Umsetzung dar. Zum einen konnte ein Ausbau des Projekts aufgrund der geringen Personalisierung nur schleppend voranschreiten, doch viel wichtiger: Bisher konnte nur ein Teil des Bedarfs der Zielgruppe gedeckt werden. Der Vertrauensaufbau in der Zielgruppe gestaltete sich ebenfalls schwieriger und zeitintensiver als zunächst angenommen. Obwohl Multiplikatorinnen das Projekt von Beginn an mitgestalteten, führten Scham und Stigmata rund um das Thema Behinderung dazu, dass viele Familien lange Zeit zurückhaltend blieben und die Erzählcafés nur zögerlich annahmen. Auch organisatorische Faktoren schränkten die Umsetzung ein: Von zehn geplanten Aktionstagen konnten im ersten Jahr nur vier durchgeführt werden, weil die Frauen aufgrund ihrer familiären Verpflichtungen kaum Zeit für zusätzliche Aktivitäten fanden. Die Mobilität erwies sich ebenfalls als großes Hindernis. Besonders im ländlichen Raum, wo der öffentliche Nahverkehr häufig nicht barrierefrei und flächendeckend verfügbar ist.
Sehr gut wurden hingegen die spezifischen und individuellen Beratungsformate angenommen – hier bestand ohne Zweifel der größte Bedarf. Veranstaltungen oder erlebnisorientierte Angebote wurden zwar nicht grundsätzlich abgelehnt, aber die Frauen bevorzugten Maßnahmen, die direkt ihre alltäglichen Problemlagen aufgriffen – etwa den Schulbesuch eines Kindes mit Behinderung oder die Beantragung von Pflegeleistungen. Besonders erfolgreich waren auch die Sprachangebote mit pflegespezifischem Fachvokabular, die es den Angehörigen erleichterten, ihre Bedürfnisse im Hilfesystem klarer zu artikulieren. Auch der Sport spielte eine elementare Rolle: Er half, erste Zugänge zu schaffen, Vertrauen aufzubauen und eine regelmäßige Teilnahme zu fördern.
Die 2024 durchgeführte Evaluation bestätigte die Wirksamkeit des Projekts in mehreren Bereichen. Auf individueller Ebene verbesserten die Teilnehmerinnen ihren Zugang zu Hilfsangeboten, entwickelten mehr Selbstwirksamkeit und erlebten psychosoziale Entlastung. Das Projekt bot einen geschützten Raum, in dem Sorgen und Ängste offen angesprochen werden konnten. Zugleich trug es zur Integration bei, indem Missverständnisse im Kontakt mit Behörden abgebaut und sprachliche Barrieren reduziert wurden. In vielen Fällen übernahm das Projekt damit eine Art Lückenbüßer-Funktion, da andere Akteure im Hilfesystem nicht kultursensibel oder sprachkompetent genug agierten.
Auf gesellschaftlicher Ebene trug das Projekt dazu bei, Isolation zu verhindern, indem es Betroffene regelmäßig zusammenführte. Die Wirkung war zwar begrenzt, weil nicht alle Angebote gleichermaßen genutzt werden konnten, doch die positiven Effekte waren dennoch spürbar. Kritisch bleibt allerdings die fehlende Nachhaltigkeit: Ohne langfristige Finanzierung und strukturelle Verankerung laufen die erzielten Fortschritte Gefahr, nicht von Dauer zu sein. Aktuell wird das Projekt noch bis Ende des Jahres gefördert. Für die Zukunft wird es entscheidend sein, die bestehenden Strukturen zu verstetigen und auszubauen. Notwendig sind eine Fortführung der aufsuchenden Beratung, eine Intensivierung der Sprach- und Bildungsangebote – insbesondere im Bereich medizinisches Fachdeutsch –, eine Verbesserung der Mobilität durch barrierefreie Transportlösungen sowie eine gezielte Öffentlichkeitsarbeit, um die Thematik stärker in das Bewusstsein politischer Entscheidungsträger zu rücken. Ebenso wichtig ist die Stärkung von Multiplikatorinnen, die innerhalb der Community als Brückenbauerinnen wirken können und Vertrauen schaffen.
Das Projekt Flucht und Behinderung zeigt eindrucksvoll, dass Teilhabe nur dann gelingen kann, wenn die spezifischen Lebensrealitäten von Menschen ganzheitlich ernst genommen werden und praktische Lösungen geschaffen werden. Der Bedarf ist groß. Und schon kleine, zielgerichtete Schritte haben gezeigt, dass sie eine enorme Wirkung entfalten können.