Es gibt Länder, da ist Cricket ein Riesending. Global gesehen liegt Cricket sogar hinter Fußball auf dem zweiten Platz der populärsten Sportarten. In Indien ist der Sport in etwa so beliebt wie hierzulande Vanilleeis, Geburtstage und Gehaltserhöhungen zusammen. Als Olaf Scholz den 1,4-Milliarden-Einwohner*innen-Giganten vor wenigen Wochen besuchte, stattete der Bundeskanzler noch schnell den Cricketstars der Royal Challengers Bangalore einen Besuch ab. Wohlgemerkt: Sportler* innen, die sich regelmäßig im „Forbes“- Ranking der bestbezahlten Athlet*innen weltweit wiederfinden.
Doch dass Scholz auch hierzulande jemals den Bowlern und Battern beim Ausüben ihres Sports zugesehen hat, ist eher unwahrscheinlich. Denn in Deutschland fehlt der Glamourfaktor. Das vor allem in den ehemaligen britischen Kolonien omnipräsente Cricket fristet noch immer ein Schattendasein. Rund 7000 Mitglieder zählt der Deutsche Cricket-Bund, die deutsche Nationalmannschaft der Männer steht auf Platz 34 von 91 Teams im Niemandsland der Weltrangliste. Doch während die Sportart zunächst in der ehemaligen englischen Besatzungszone im Norden Deutschlands wesentlich mehr Zulauf er- hielt, ist sie inzwischen auch im Südwesten der Republik auf dem Vormarsch. 19 Klubs sind es bereits in Baden-Württemberg. Und einer der treibenden Kräfte bei der Entwicklung der Randsportart ist hierbei ohne Frage der Stuttgart Cricket Verein (SCV), Stützpunktverein im Bundesprogramm „Integration durch Sport“.
Nationalspielerinnen werben an der Universität
2011 hatten Aravinda Ruhunuhewa und Roshan Ranasinghe den SCV aus der Taufe gehoben. Zuvor hatten die beiden Männer aus Sri Lanka aus Mangel an Alternativen im Stuttgarter Raum sogar immer wieder lange Fahrten nach Bonn auf sich genommen, um ihren geliebten Sport ausüben zu können. Nur zwölf Jahre später hat der mit lediglich fünf Sportlern gestartete Ver- ein 130 Mitglieder. „Die Zahlen bei uns explodieren. Selbst zu Corona-Zeiten haben wir Mitlieder dazugewonnen“, sagt etwa Yvonne Schubert, Schriftführerin und Ersatzspielerin des Bundesligateams des SCV, nicht ohne Stolz. Die meisten Mitglieder beim deutschen Vizemeister von 2019 stammen laut Schubert, die mit Vereinsgründer und -Präsident Ranasinghe verheiratet ist, aus Indien. Aber auch aus Sri Lanka, Pakistan oder Bangladesch. Deutsche ohne Migrationshintergrund findet man dagegen kaum beim Stuttgarter Verein – lediglich zwei Sportler sind dabei.
„Das Spiel ist auf den ersten Blick kompliziert und erschließt sich nicht so einfach“, hat Yvonne Schubert einen Erklärungsansatz, warum Cricket hierzulande noch immer einen schweren Stand hat. „Außerdem dauert eine Partie sehr lange und manchmal passiert nicht viel“, sagt Schubert mit Blick auf die üppige Spielzeit, die gelegentlich auch schon die Acht-Stunden-Marke knackt. Und dennoch ist die Schriftführerin guter Dinge, dass es in Zukunft auch anderen Mitbürger*innen so ergeht wie ihr und sie sich für Cricket begeistern lassen. Um das zu erreichen, investiert der SCV eine ganze Menge Zeit und Ressourcen. So werben beispielsweise bei einem Aktionstag zwei Nationalspielerinnen des SCV an der Universität in Stuttgart für ihren Sport. Mitte Mai werden zudem bei der Kampagne „Invite a friend“ Kinder des Vereins angehalten, einen Freund zum Training mitzubringen. Bei einem Schnuppertag Anfang des Jahres waren bereits mehr als 30 Kinder dabei, um sich die Sportart einmal anzusehen. „Wir wollen nicht in unserem eigenen Saft schmoren, sondern uns allen Leuten gegenüber öffnen“, sagt Schubert.
Zusammenarbeit mit Flüchtlingsorganisationen
Mit offenen Armen empfängt der SCV auch Geflüchtete aus Afghanistan, die inzwischen bis zu 15 Prozent der Mitglieder ausmachen. „Als wir 2011 anfingen, hatten wir schon einige Flüchtlinge aus Afghanistan im Verein. Und seit letztem Jahr werden es wieder mehr.“ Um den Kontakt zu erleichtern, arbeitet der Stuttgart Cricket Verein mit verschiedenen Flüchtlingsorganisationen zusammen. „Die schreiben uns direkt an und fragen nach, ob die Flüchtlinge bei uns mittrainieren können. Oft gefällt es ihnen bei uns und sie bleiben“, erklärt Schubert. Doch ob Afghanen oder Deutsche mit oder ohne Migrationshintergrund: Beim SCV sind alle willkommen. „Wir versuchen, unsere Spieler in die deutsche Gesellschaft zu integrieren“, sagt Schubert. „Unserem Vorstand ist es sehr wichtig, dass sich bei uns alle wohlfühlen“, ergänzt die Schriftführerin. Und eine Hoffnung hat Yvonne Schubert noch. „Wenn die Sichtbarkeit von Cricket steigt, steigt vielleicht auch die Popularität bei der einheimischen Bevölkerung“. Und wer weiß, vielleicht schafft es der Bundeskanzler dann ja auch mal zu einem Spiel des SCV.
Text: Sebastian Klaus
Bild: Benjamin Lau/BeLaSportfoto