"Handball ist unsere Sprache“

Der Handballsport in Deutschland ist nicht unbedingt für seine integrative Kraft bekannt. Beim tus Stuttgart ist das anders: Der Syrer Amro Kanah (31) hat hier als Jugendtrainer angeheuert – wie der Handballverein und er voneinander profitieren.

Jugendleiter Benjamin Schlindwein und Jugendtrainer Amro Kanah (TUS Stuttgart)
Jugendleiter Benjamin Schlindwein und Jugendtrainer Amro Kanah (TUS Stuttgart)

Amro Kanah muss nicht lange überlegen. Seine Stimme wird heller, als er erklärt, was ihm der Handballsport bedeutet: „Handball ist wie das Blut, das durch meine Adern fließt. Er ist mein Leben“, sagt der 31-Jährige. Er sei syrischer Nationalspieler gewesen, erzählt Kanah. Mehrmals die Woche hatte der ehemalige Kreisläufer im Training kleine Rangeleien am Kreis für sich entschieden, Tempogegenstöße gefahren, Tore aus der Drehung geworfen. Vor sieben Jahren dann musste er aus Syrien fliehen. Er kam nach Baden-Württemberg. Integriert ist er, seit er wieder Handbälle wirft.
Nach Stationen in einem Flüchtlingsheim in Karlsruhe, Mannheim, Kirchheim unter Teck und Esslingen, fand Kanah Anschluss beim TV Plochingen. Über seine damalige Deutschlehrerin ist der Kontakt zur Handball-Abteilung entstanden. „Ich wurde freundlich aufgenommen. Wir haben in der 3. Liga gespielt, das war etwa das Niveau wie in Syrien“, sagt Kanah. Später wechselte er zum TV Altbach, ehe ihn eine Schulterverletzung und Rückenprobleme dazu zwangen, die aktive Laufbahn zu beenden. „Ich wollte mich seither unbedingt als Trainer einbringen, nach langer Suche hat mir diese Möglichkeit der tus Stuttgart gegeben.“
Seit Januar 2022 ist er im Verein – und viel ist seither passiert. Kanah hat die Trainer-C-Lizenz des Deutschen Handballbundes erfolgreich erworben. Dafür musste er quer durch Deutschland reisen, denn er nahm an einem Kurs auf Arabisch teil: Der Handballkreis Bielefeld-Herford hat das Pilotprojekt in 2021 ins Leben gerufen. Das Seminar gibt arabisch sprechenden Handballtrainer*innen einen Einblick in die deutsche Rahmentrainingskonzeption. Für Kanah war es herausfordernd, aber auch die perfekte Möglichkeit, den nächsten Schritt zu gehen. Die nötige emotionale und finanzielle Unterstützung erhielt er aus dem Verein: „Er kam relativ spontan mit der Idee auf uns zu, dann haben wir kurz überlegt und bereits eine Stunde später saß er im Zug zum Lehrgang“, sagt Benjamin Schlindwein, Jugendleiter beim tus Stuttgart Handball. Dabei waren die Kosten, mitsamt deutsch-arabisch Dolmetscher, sogar die höchste Ausgabe, die die Abteilung bis dato je hatte. „Amro fordert viel, aber er leistet auch einiges. Wenn wir ihn investieren, ist das eine Win-Win-Situation.“
Die Jugend des tus Stuttgart besteht derzeit aus zehn Teams, von Minis zu B-Jugendlichen. Die neu gegründete Jugendspielgemeinschaft Stuttgart Waldau mit den Stuttgarter Kickers macht es möglich, dass der Klub so breit aufgestellt ist. Kanah trainiert die männliche B-Jugend. Die noch vorhandene Sprachbarriere ist keine Hürde. „Neben dem Spielfeld verstehe ich nicht immer alles. Aber auf dem Feld geht es problemlos. Handball ist unsere Sprache.“
Auch Schlindwein bestätigt, dass es im Sport mehr um Trainingsdesign und Spielerentwicklung gehe. „Man muss ein Auge dafür haben, was Spielerinnen und Spieler brauchen. Das Auge hat Amro.“ Bewiesen hat Kanah das auch im Sommer, im Trainingslager am Bodensee. Mehr als 40 Kinder und Jugendliche waren mit und lernten schnell zu schätzen, was ihnen der syrische Ex-Kreisläufer in Sachen Wurftechnik und Spieltaktik mitgeben konnte.

Bereits vor vier Jahren hatte der tus einen anderen Handballtrainer mit syrischen Wurzeln mit offenen Armen empfangen: Nashat Salti hat die erste Herrenmannschaft bis zu seinem Weggang drei Jahre lang trainiert. Er hatte seinen Landsmann Amro in den Verein gelotst – und damit die Integration weitergetrieben. Der Handball in Deutschland ist nicht unbedingt bekannt für seine integrative Kraft. In wenigen anderen Sportarten ist der Anteil an Kindern mit Migrationshintergrund so gering. Das liegt etwa daran, dass die Regeln nicht selbsterklärend sind, man einen geeigneten Platz mit Linien benötigt und sich neue Mitglieder oft nur aus dem Familien- und Freundeskreis von Aktiven rekrutieren.
„Benjamin und der Verein haben mich bisher sehr unterstützt. Ich bin dankbar und stolz, beim tus Stuttgart zu sein“, so Kanah. Nächstes Jahr will er sich als Torwarttrainer weiterbilden, und der Verein schickt ihn zum „Global Handball Summit“ nach Nord-Mazedonien, um weiter von seinen Fähigkeiten und neuem Know-how zu profitieren.


  • Jugendleiter Benjamin Schlindwein und Jugendtrainer Amro Kanah (TUS Stuttgart)
    Jugendleiter Benjamin Schlindwein und Jugendtrainer Amro Kanah (TUS Stuttgart)
  • Die B-Jugendmannschaft TUS Stuttgart (alle Bilder DOSB)
    Die B-Jugendmannschaft TUS Stuttgart (alle Bilder DOSB)
  • Im Handball fühlt sich Amro Kanah wie Zuhause
    Im Handball fühlt sich Amro Kanah wie Zuhause