Atila Dalgic – Box-Trainer, Spartenleiter, Botschafter, Integrationslotse: „Raisdorf ist nicht Philadelphia“

Schwentinental – Raisdorf ist nicht Philadelphia. Hier im Ortsteil von Schwentinental vor den Toren der Landeshauptstadt Kiel gibt es keinen Rocky Balboa, keine Unterwelt, keine Boxer, die im Training auf Schweinehälften einprügeln. Hier gibt es Atila Dalgic. Hier gibt es die Albert Schweitzer-Schule und Boxer, Sandsäcke, Punchingbälle. Hier gibt es viele Geschichten. Geschichten von der Straße, von Integration und Migration, die eng verknüpft sind mit der Geschichte von Atila Dalgic.

Fotos: Tamo Schwarz
Fotos: Tamo Schwarz

Vom 1. bis 4. Oktober wird Dalgic als einer von fünf Schleswig-Holsteinern der Delegation von Ministerpräsident Daniel Günther bei den Feierlichkeiten zum Tag der deutschen Einheit in Halle/Saale angehören. Eine große Ehre und noch lange nicht das Ende dieser Story, die vor 47 Jahren begann. 1974 wird der kleine Atila in Kiel geboren. Zuerst Hassee, dann Mettenhof, der Vater ist Gastarbeiter, 1971 waren die Kurden nach Deutschland gekommen. Mit 13 Jahren beginnt Atila beim Polizei-Sportverein Kiel mit dem Boxen. Heute sagt der 47-Jährige: „Das Boxen hat mich davor bewahrt, vielleicht auf die schiefe Bahn zu geraten.“ Vielleicht, ja vielleicht ist also dieser Moment im Leben des jugendlichen Atila Dalgic die Initialzündung für all das, was noch kommen wird.

Viele Jahre später geht Dalgic mit seinem Sohn Kerim zum Boxen, bleibt selbst auch im Boxteam des Raisdorfer TSV hängen, neben Kerim (19) boxt auch Tochter Shirin (18) heute beim RTSV. Ehefrau Angelique leitet beim Fußball-Zweitligisten Holstein Kiel das Ticketing. Eine sportliche Familie. Atila Dalgic macht seine Trainerlizenz, wird Beisitzer im Vorstand, übernimmt die Sparte 2014 mit 35 Mitgliedern. Heute sind es 137 – viele Mädchen und Frauen, allein 43 „Kampfzwerge“ im Alter von acht bis zwölf Jahren. „Unser Rezept ist das Familiäre. Die Kids trainieren, während die Mütter auch integriert sind“, sagt Dalgic.

Spartenleiter, Vorstandsmitglied, Trainer, Integrationslotse: Atila Dalgic (47). Rund 40 Prozent der Mitglieder haben eine Migrationshintergrund. Und auch das ist Teil dieser Geschichte. Nach 2014 und 2015, als so viele Flüchtlinge nach Deutschland kamen, initiierte der Landessportverband Schleswig-Holstein das Projekt der „Integrationslotsen im Sport“ mit dem Ziel, Geflüchtete, Migrantinnen und Migranten sowie sozial benachteiligte Menschen für den Sport zu begeistern, in die Vereine zu integrieren und sie dadurch am gesellschaftlichen Leben teilhaben zu lassen. Atila Dalgic wurde so ein Integrationslotse, wurde Botschafter des Projektes „Kein Kind ohne Sport!“. „Mir geht es besonders darum, die Jugendlichen von der Straße zu holen, damit sie keinen Blödsinn machen“, sagt der vereidigte Dolmetscher für die türkische und kurdische Sprache.

Der freiberufliche Job des Dolmetschers und das Boxen –das passt. „50 Prozent meiner Zeit macht mittlerweile das Boxen aus“, sagt Dalgic. Der sympathische Tausendsassa steht in der Halle, gibt Anweisungen, hält die Pratzen für den erst elfjährigen Lais Kalifa. Trainer und Schüler drehen sich im Kreis, irgendwann schnellt die rechte Gerade des Elfjährigen nach vorne. Im Ring kämpft Wajid Safi. Der 21-Jährige kam 2015 als Flüchtling aus Afghanistan – und blieb beim RTSV. „Es sind bestimmt zehn unserer Boxer, die damals als Flüchtlinge kamen und heute noch da sind“, sagt Dalgic. Der 47-Jährige ist unermüdlich, schwärmt, von der 18-jährigen norddeutschen Meisterin Emily Schmidt, von den „Kampfzwergen“, von seinen Trainern. Dalgic hält selten inne, blickt voraus auf die Landesmeisterschaften in Schleswig am 24. September und besonders auf den in diesem Jahr dezentral veranstalteten „Tag des Sports“ am 5. September.

Normalerweise sind Dalgic und seine Boxer Stammgäste im Hans-Hansen-Saal. In diesem Jahr ist bei der TuS Gaarden der offene Landespokal geplant. Die Boxer in der Halle schwitzen an den Sandsäcken, tänzeln auf den Füßen, arbeiten an ihrer Technik. Mittendrin wuselt Dalgic umher. Egal, ob es die Kaderathleten, die Eliteboxer, die Fitness-Boxer, Frauen, Mädchen, Kinder, Jugendliche sind – Dalgic will ihnen Disziplin und Durchhaltevermögen vermitteln, will Berührungsängste abbauen.

Das gelingt ihm wie kaum einem anderen. Die Zahlen geben ihm recht. Die Einladung des Ministerpräsidenten untermauert das. Fünfmal pro Woche ist Atila Dalgic in der Halle. „Diese Aufgabe erfüllt mich“, sagt er. „Es macht mich wirklich glücklich, macht mir so viel Spaß.“ Raisdorf ist nicht Philadelphia. Und das ist auch gut so.

Bericht von Tamo Schwarz


  • Fotos: Tamo Schwarz
    Fotos: Tamo Schwarz