Vor ein paar Tagen erst ist die Weitspringerin Maryse Luzolo von der Hallen-Leichtathletik-EM in Istanbul zurückgekommen. Nun sitzt sie in einer Skihütte in den Alpen. Es regnet. Sie darf zwar sowieso nicht Ski fahren, wegen der Verletzungsgefahr, aber sie wandert gern durch den Schnee.
Maryse Luzolo gehört zur zehnköpfigen Gruppe „Anti-Rassismus“, die die Vereinigung „Athleten Deutschland“ direkt nach den Black-Lives-Matter-Protesten 2020 unter ihrem Dach gegründet hat. Ein Gespräch anlässlich der „Internationalen Wochen gegen Rassismus“, über Rassismus im Sport, nie endende Aufklärungsarbeit und den problematischen Begriff „Integration“.
Derzeit laufen die „Internationalen Wochen gegen Rassismus“. Welche Bedeutung haben solche Aktionen für Sie als Schwarze Person?
Ich finde es sehr gut, dass es diese Wochen und damit viele Aktionen gegen Rassismus gibt, denn im Alltag, auch in den Verbänden und Vereinen, wird eindeutig zu wenig darüber gesprochen. Insofern ist es hilfreich, dass durch solche Initiativen die Aufmerksamkeit auf das Thema gelenkt wird, dass man sich austauschen kann, etwas getan wird, um die Sensibilität beim Umgang mit Rassismus zu verbessern. Egal ob als Person of Color oder Weißer Mensch, man lernt immer was dazu.
Nimmt die Gruppe „Anti-Rassismus“ aktiv an diesen Wochen teil?
Ja, wir werden uns an verschiedenen Aktionen und Projekten beteiligen. Letztes Jahr haben wir das Thema direkt in die Spitzen des organisierten Sports getragen und mit Verantwortlichen aus mehreren Verbänden über Rassismus gesprochen und diskutiert. Prinzipiell ist es für aktive Leistungssportler*innen aber nicht so leicht, so viele Termine und Anfragen unter einen Hut zu bringen.
Haben Sie geahnt, wie sehr Sie das Engagement bei der Gruppe „Anti-Rassismus“ herausfordern würde?
Ich wusste schon ungefähr, was auf mich zukommt, denn ich bin als Schwarze Person von Rassismus betroffen. Und trotzdem sind viele Auseinandersetzungen sehr intensiv und führen einem immer wieder schmerzhaft die Realität vor Augen, die man manchmal auch selber auszublenden versucht: Wie es ist, als Schwarze Person in einem rassistischen System zu leben.
Ihre Gruppe scheint überwiegend aus Frauen zu bestehen. Wo sind die Männer?
Mein Gefühl ist, dass PoC-Männer die öffentliche Auseinandersetzung mit dem Thema Rassismus eher meiden. Ich bin oft auf Lesungen und Veranstaltungen von Schwarzen Autor*innen, und dort treffe ich überwiegend auf Frauen. Vielleicht liegt es daran, dass wir Frauen neben dem Rassismus auch Sexismus erleben, vielleicht bekommen wir dadurch einfach ein paar mehr Dinge mit, die falsch laufen. Wir sehen mehr, sind stärker betroffen und setzen uns daher mehr mit diesen Themen auseinander. Aber das ist nur meine persönliche Beobachtung, sie ist keinesfalls repräsentativ. Dazu kommt: Für viele PoC ist der Alltag von Rassismus geprägt, die möchten sich nicht zusätzlich damit auseinandersetzen. Das ist sehr ermüdend und meistens ernüchternd. Ich kann das gut verstehen. Mir ist auch manchmal alles zu viel.
Wie funktioniert die Zusammenarbeit mit „Athleten Deutschland“?
Die kennen sich sehr gut in der Anti-Rassismus-Arbeit aus. Wir sprechen viel mit ihnen, klären, inwieweit die Verbände unsere Forderungen umsetzen, ob zum Beispiel Banner für Wettkämpfe produziert werden und wen wir dafür ansprechen können.
Viele Verbände positionieren sich nach außen sehr eindeutig gegen Rassismus, da sollten sich dann doch Ansprechpartner*innen finden lassen …
Die Positionierung könnte sehr viel klarer sein: Wir wollen, dass schon auf der Verbandswebsite deutlich gemacht wird: Wir sind gegen Rassismus. Es geht um nachvollziehbare Sanktionen bei rassistischen Vorfällen und Sensibilisierungsmaßnahmen für Trainer*innen. Oft fehlen in den Verbänden Beratungsstellen und Ansprechpersonen, an die sich Menschen wenden können, die rassistische Vorfälle erlebt haben. Problematisch ist weiterhin der Umgang mit Hasskommentaren in den sozialen Medien. Alltag für viele PoC, aber die meisten Verbände tun wenig dagegen. Das sind Forderungen, die wir gemeinsam mit „Athleten Deutschland“ besprechen, und bei denen wir überlegen, wie wir ihnen Nachdruck verleihen können und auf welchem Wege. Wir haben aber auch außerhalb der Verbände Kooperationspartner*innen, etwa die Deutsche Sporthochschule in Köln, mit denen wir zusammen Anti-Rassismus-Projekte durchführen.
Werden Sie und Ihre Kolleg*innen von den Verbänden gehört?
Ich kann nicht für alle Verbände sprechen, aber in der Leichtathletik werde ich schon gehört – meistens zumindest. Was mir wirklich gut gefallen hat: Letztes Jahr hatten wir mit der Gruppe „Anti-Rassismus“ eine Paneldiskussion, zu der viele Funktionär*innen gekommen sind, darunter auch die DLV-Cheftrainerin Annett Stein. Das war ein starkes Signal. Sie sagte, es sei ihr wichtig, dass alle Athlet*innen sich wohlfühlen. Die Frage ist aber, wie die Umsetzung am Ende läuft.
In Ihrem Verband, dem DLV, gibt es unter den Athlet*innen eine hohe Diversität. Stimmt die Formel: Verbände mit hoher Diversität haben ein höheres Bewusstsein für Rassismus als Verbände, in denen das nicht der Fall ist?
(denkt länger nach) Das ist schwer zu beantworten. Ich würde sagen, dass ich trotz der Diversität nicht weniger Rassismus erlebe. So läuft es eben nicht. Es ist ja ein struktureller Rassismus, er ist im System vorhanden. Und wenn sich ein Dachverband nicht in aller Klarheit positioniert und Maßnahmen ergreift, dann strahlt das unbewusst auf die Ebenen darunter ab, weil die Menschen das Gefühl haben, dass das Thema offensichtlich nicht oberste Priorität besitzt.
Wie läuft es bei Ihnen im Team ab?
Wenn man in der Trainingsgruppe die einzige Person of Color ist, fühlt man sich per se schon sehr allein. Es kommt schon vor, dass wir über Rassismus in der Gruppe sprechen, aber die Regel ist, dass ich solche Gespräche eher vermeide. Man muss dort oft erklären, was überhaupt Rassismus ist, oder man stößt auf Leute, die sagen: „Das ist nicht Rassismus“, oder: „Das ist nicht so schlimm gemeint.“ Am Ende steht man immer allein da. Das gibt mir kein gutes Gefühl. Für solche Fälle fehlen die angesprochenen Beratungsstellen.
Auf welche Art behelfen Sie sich selber?
Ich bespreche das mit meiner Familie, anderen Freund*innen, die ähnliche Erfahrungen machen oder mit der Arbeitsgruppe „Anti-Rassismus“. Das ändert aber nichts daran, dass man sich im ersten Moment allein damit auseinandersetzen und sich auch rechtfertigen muss. Und was man dabei nicht vergessen darf: Es sind letztlich ja Menschen, mit denen man täglich trainiert. Deshalb ist es wichtig, dass wir ein Umfeld schaffen, in dem sich alle Athlet*innen wohlfühlen – auch Nicht-Weiße-Personen.
Was erleben Sie konkret?
Manchmal ist es pure Ignoranz, ein Kommentar, der zu weit geht, manchmal ist es aber auch klassischer Alltagsrassismus oder positiver Rassismus, also wenn jemand zu mir als Schwarze Person sagt: „Ach, du läufst doch sowieso schnell, weil du schwarz bist.“ Das ist alles oft nicht so böse gemeint, aber es macht trotzdem was mit einem. Vor allem, wenn man es von klein auf immer wieder hört. Die ständigen Kommentare übers Aussehen, die Haare oder die Ethnie. Und solche Sachen hört man eben auch im Training oder im Trainingslager.
Und das in einer Gruppe, die so eng miteinander arbeitet...
Das ist das Schwierige. Man kann darüber sprechen, man kann aufklären. Auch Trainer*Innen zum Beispiel. Ich korrigiere sie, wenn wir an einen Punkt kommen, an dem mich ihre Äußerungen stören. Aber der Austausch ist nicht so einfach. Man hat Angst, gegen eine Mauer zu sprechen und dass die Personen es vielleicht nicht ernst nehmen. Das erschwert eine Beziehung.
Sie haben in einem Interview mal davon gesprochen, „dass Sport auch der Ausweg aus einer blöden Realität war, in der ich als Schwarzes Mädchen gelebt habe“. Hat das Gefühl angehalten?
Ich habe mich früher wenig mit Rassismus auseinandergesetzt, aber ich habe natürlich gemerkt: Er ist da im Alltag. Als ich mit neun Jahren mit der Leichtathletik anfing, war ich in einer Gruppe, in der es eine Reihe von PoC gab. Da habe ich mich aufgehoben und verstanden gefühlt. Das Gefühl hat sich im Laufe der Zeit verschoben, mir ist mittlerweile bewusst, dass es Rassismus auch im Sport gibt. Trotzdem ist der Sport für mich immer noch ein Ort, wo ich abschalten kann.
Sind Sie froh, in einer Sportart unterwegs zu sein, die objektiv bewertbar ist, in der nur die gesprungenen Meter und Zentimeter zählen, nichts anderes?
Oh, das ist eine echt gute Frage. Ich habe tatsächlich noch nie darüber nachgedacht. Aber wenn ich jetzt überlege, ein ganz klares Ja. Zumal mir in diesem Augenblick die Schwarze französische Eiskunstläuferin Surya Bonaly einfällt, die bei den Olympischen Spielen 1998 in Nagano als erste Sportlerin überhaupt einen Salto rückwärts einbeinig sprang und gestanden hat. Sie ist bei Weltmeisterschaften immer nur Zweite geworden und hat bei Olympischen Spielen nie eine Medaille gewonnen. Da bin ich froh, dass meine Sportart nur objektiv bewertet werden kann.
Apropos Olympische Spiele in Japan; Sie waren vor zwei Jahren in Tokyo dabei, haben den rassistischen Vorfall im deutschen Radsportverband miterlebt. Ist darüber gesprochen worden?
Wir Athlet*innen haben uns natürlich darüber unterhalten, offiziell und verbandsseitig ist aber niemand an uns herangetreten. Eher war es so, dass einigen Trainer*innen plötzlich klar wurde, dass sie vorsichtig sein müssen, wenn sie Athlet*innen etwas zurufen. Es könnte aufgenommen werden.
Hat Sie der Umgang mit der Situation getroffen?
Ich war eher genervt, dass es überhaupt zu so einem derartigen Vorfall kam. Aber ich fand es gut, dass schnell Konsequenzen gezogen wurden. Aber auch nur, weil es live im Fernsehen zu hören war. Ich glaube: Wenn ich an der Strecke gestanden und einen solchen Zuruf gehört hätte, als Einzige, und es später dem Verband mitgeteilt hätte, dann wäre die Situation anders ausgegangen. Nur dadurch, dass es live war, gab es keine andere Wahl.
Erleben Menschen mit unterschiedlicher Zuwanderungsgeschichte Rassismus unterschiedlich?
Er äußert sich anders, nicht jeder Rassismus ist gleich. Es gilt aber: Auch wenn sich die Art des Rassismus unterscheiden mag, er ist immer gleich schlimm und demütigend, man fühlt sich schlecht, das Selbstwertgefühl wird angegriffen.
Der schwarze Schauspieler und Filmproduzent Tyron Ricketts sagt, nach der Black-Lives-Matter-Bewegung sei ein Ruck durchs Land gegangen. Empfinden Sie das auch so?
Der Mord an George Floyd hat auch deswegen so viele Menschen bewegt, weil die Tat im Video festgehalten worden ist und man sie sich im Fernsehen oder im Internet ansehen konnte. Das hat Menschen dazu gebracht, sich mehr mit Rassismus, seinen Ursachen und Erscheinungsformen zu beschäftigen. Aber nur für kurze Zeit. Denn ab dem Moment, an dem man beginnt, sich mehr mit Rassismus auseinanderzusetzen, dem eigenen wie dem strukturellen, wird es sehr unangenehm. Und sobald es unangenehm wird, ziehen die Leute sich wieder zurück in ihre sichere Blase.
Es klingt alles nach viel ermüdender Aufklärungsarbeit. Erkennen Sie Erfolge?
Ich merke schon, dass sich etwas verändert, wenn auch in sehr feinen Schritten. Daraus ziehe ich meine Kraft. Mir ist aufgefallen, seitdem ich im DLV das Gesicht der Gruppe „Anti-Rassismus“ bin, dass manche Leute mehr darauf achten, was sie in meinem Umfeld sagen. Das ist grundsätzlich zwar schwierig, wenn solch ein Verhalten nur an meine Anwesenheit gekoppelt zu sein scheint und man nicht weiß, was sie sonst wohl sagen würden. Andererseits: Besser ich bin präsent und die Menschen müssen darauf reagieren, anstatt das zu sagen, was sie denken. Darauf bin ich stolz.
Wenn Sie den Begriff „Integration“ hören: Was denken Sie?
Ich finde den Begriff Integration sehr schwierig, weil er suggeriert, dass es eine dominierende Gruppe gibt, die definiert, was deutsch ist und wer dazugehört. Von weißen Menschen werde ich ja als nicht deutsch gelesen, obwohl ich zu 100 Prozent eine deutsche Schwarze bin.
Und der Begriff „Integration“ unterstützt diese Lesart der Nichtdeutschen?
Ja, absolut. Ich werde dadurch automatisch Menschen zugeordnet, die integriert werden müssen. Für nicht weißgelesene Menschen, die deutsch sind, hört sich der Begriff einfach peinlich an. Er vermittelt uns das Gefühl: Wir gehören nicht dazu. Vielleicht braucht es eine neue Begrifflichkeit, damit wir alle uns eingeschlossen fühlen.
Interview: Marcus Meyer
Weitspringerin mit Weitsicht
Maryse Luzolo wurde 1995 als Kind kongolesischer Eltern in Frankfurt am Main geboren. Sie ist, nach Malaika Mihambo, der Olympiasiegerin und zweimaligen Weltmeisterin, die Nummer 2 im deutschen Weitsprung. 2021 sprang Luzolo mit 6,69 Meter ihre Bestweite, mit der sie sich für die Olympischen Spiele in Tokio qualifizierte. Dort verpasste sie als 15. knapp den Endkampf der zwölf weltbesten Springerinnen. Luzolo, die Sportsoldatin, fühlt sich durch Bundeswehr, Deutsche Sporthilfe und ihren Verein, den Königsteiner LV, bestens gefördert. 2017 erlitt die Leichtathletin bei einem Unfall an einem Trainingsgerät eine schwere Verletzung des linken Knies, die sie zu einer zweijährigen Pause zwang. Im vergangenen Jahr rissen dann die Bänder im Sprunggelenk. Trotz des großen Verletzungspechs hält Maryse Luzolo an ihren Plänen fest: „Die Olympischen Spiele in Paris 2024 sind in meinem Kalender eingetragen.“