„Der Sport funktioniert als Sozialakteur“

Professor Dr. Silvester Stahl ist Experte für Sportsoziologie. Im Interview spricht er über das Engagement und die Herausforderungen der Vereine

Gerade den Kindern können die Vereine mit Bewegungsangeboten einen wichtigen psychosozialen Ausgleich
bieten. Foto: LSVBW
Gerade den Kindern können die Vereine mit Bewegungsangeboten einen wichtigen psychosozialen Ausgleich bieten. Foto: LSVBW

Hunderttausende ukrainische Geflüchtete haben sich auf den Weg nach Deutschland gemacht. „Die Sportvereine sind ziemlich gut vorbereitet“, sagt Professor Dr. Silvester Stahl von der Fachhochschule für Sport und Management Potsdam.

Herr Stahl, Sport gilt als Integrationsmotor in Deutschland und hat 2015 abgeliefert. Jetzt kommen die Menschen aus der Ukraine. Ist die Situation vergleichbar?

Nicht ganz. Anders als bei den Fluchtbewegungen 2015, in der vor allem viele junge Männer gekommen sind, handelt es sich bei den Geflüchteten aus der Ukraine vorwiegend um Frauen und Kinder. Damit müssen sich auch die Vereine auf eine andere Zielgruppe einstellen. Viele der Menschen sind auch in der Hoffnung gekommen, dass der Krieg möglichst bald ein Ende finden wird und sie wieder in die Heimat zurückkehren können. Aber sicherlich werden einige auch dauerhaft bleiben.

Wie können die Vereine und der Sport aktuell helfen?

Der Sport kann erst einmal niederschwellige Angebote bieten. Es geht zunächst nicht in erster Linie um Integration, sondern um einen psychosozialen Ausgleich für die Menschen, die zum Teil Fürchterliches erlebt haben und deren Gedanken bei den zurückgebliebenen An- gehörigen sind. Der Sport ist jetzt vor allem eine Ablenkung und bietet eine Auszeit von einer belastenden Situation und Spaß – gerade für die Kinder. Und wer sich bewegt und Sport treibt, stärkt auch seine Resilienz und kann mit Stressfaktoren besser umgehen. Aber wenn traumatische Erlebnisse verarbeitet werden müssen, benötigt man professionelle Hilfe. Da geraten Ehrenamtliche schnell an ihre Grenzen. Ein wichtiger Faktor ist auch der Schulsport. Anders als in den Haupt- fächern, wo die Kinder aus der Ukraine noch getrennt unterrichtet werden, findet der Unterricht im Sport gemeinsam statt. Und im Ganztagsbetrieb können sich dann auch die Vereine einbringen. So entstehen ebenfalls erste Kontakte, Kinder finden Freunde.

Die Geflüchteten von 2015 taten sich teilweise schwer, sich dauerhaft auf das Vereinsleben einzulassen. Was waren die Gründe?

Es lag vor allem an der großen Fluktuation. Die Menschen wurden innerhalb Deutschlands auch immer wieder verlegt, konnten sich anders als die Geflüchteten aus der Ukraine nicht aussuchen, wo sie leben wollen. Aber der Sport hat dennoch geliefert und gezeigt, dass er als Sozialakteur funktioniert. Die Vereine werden von Bundes- und Landesebene ja auch finanziell entsprechend unterstützt. Die Sportvereine sind gut vorbereitet – aber während seinerzeit eher Fußball, Kampf- und Kraftsport gefragt waren, braucht es jetzt nicht nur andere Bewegungsangebote wie Tanz oder Gymnastik, sondern gleichzeitig auch andere Organisationsformen, weil man beispielsweise auch Kinderbetreuung braucht, wenn die Mütter Sport machen wollen. Deshalb ist es wichtig, dass die Verbände und Vereine ihre gesamten Netzwerke reaktivieren.

Wie verändert Migration die Sportvereinslandschaft?

Zum einen haben die Vereine gerade in den Mannschaftssportarten vor dem Hintergrund des demografischen Wandels von den Menschen mit Migrationshintergrund dabei profitiert, den Spielbetrieb aufrechtzuerhalten. Zudem ist auch eine Menge sportliche Expertise hinzugekommen – beispielsweise in Form von Trainern. Und da ist auch noch der Verviel- fältigungseffekt – das sieht man bei der Sportart Cricket, die einen richtigen Boom erfahren hat aufgrund von Zuwanderern aus Ländern wie Afghanistan oder Pakistan. Das ist eine Bereicherung für die deutsche Sportkultur. Insgesamt steckt darin ein riesen Potential für die Vereine – aber es stellt sie natürlich auch vor Probleme und Herausforderungen.

Worin genau liegen diese Herausforderungen?

Am Ende ist es vor allem eine Frage der Ressourcen. Es geht um Sportstätten, Übungsleiter und auch um Geld. Wenn die Vereine das alles leisten sollen, dann müssen sie auch gut ausgestattet sein. In vielen Bundesländern gibt es, was die Sportinfrastruktur angeht, aber einen massiven Investitionsstau. Langfristig sollte man da- von ausgehen, dass es immer wieder Zu- wanderungswellen geben wird und das als ein Stück gesellschaftliche Normalität akzeptieren.

Die Fragen stelle Elke Rutschmann


  • Gerade den Kindern können die Vereine mit Bewegungsangeboten einen wichtigen psychosozialen Ausgleich
bieten. Foto: LSVBW
    Gerade den Kindern können die Vereine mit Bewegungsangeboten einen wichtigen psychosozialen Ausgleich bieten. Foto: LSVBW