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Erste Hamburger Schritte im Sportverein: Wie der VC Allermöhe und die HT 16 ukrainische Geflüchtete integrieren – und dabei das eigene sportliche Niveau steigern

Oksana trainiert Kinder und Jugendliche bei der HT16
Oksana trainiert Kinder und Jugendliche bei der HT16

HAMBURG. Alina, 13, runzelt die Stirn: „Warum schreibt er das alles auf?“ Sie wendet sich an die gleichaltrigen Diana und Laura. Ihre Frage kommt auf Ukrainisch, die Antwort auf Russisch. Danach lachen die drei Mädchen hell auf an diesem ungemütlichen Abend im Hamburger Südosten – zum Glück sind wir in der Halle des VC Allermöhe, beim Volleyball. „Er“ notiert sich alles, weil er diese Geschichte über Alina schreiben will, die nach meiner kurzen Erklärung (auf Deutsch, die dann auf Russisch übersetzt wird) nun auch Bescheid weiß und nickt. „Ich kann mir auch nicht alles merken“, sagt sie großherzig und lacht – in der Internationalen Vorbereitungsklasse des Luisen-Gymnasiums in Bergedorf sei Alina indes diejenige, die den anderen manches erklären müsse und vieles sofort verstehe, obwohl sie doch erst seit März in Hamburg sei, sagt Laura: „Alina lernt so schnell, dass sie den anderen helfen muss.“
Fast alles auf Deutsch verstehe sie schon, sagt Alina. Die Antworten kommen noch auf Ukrainisch. Aber bestimmt nicht mehr lange.
In der Ukraine ist Alina in die siebte Klasse gegangen, in Odessa am Schwarzen Meer. Dort hat sie Rhythmische Sportgymnastik gemacht, auch ein bisschen Volleyball gespielt, aber nicht so intensiv wie hier beim VC Allermöhe, wo sich ihre 19 Jahre alte Trainerin Michelle und natürlich Niels Pape um sie kümmern, der rührige Integrationsbeauftragte. „Wir bieten hier Leistungsvolleyball mit Integrationsansatz“, sagt Pape. Er ist begeistert von der Spielerin, in die sich Alina auf dem Platz verwandelt: mit sehr viel Energie, mit Sprungkraft, mit Lust, mal richtig auf den Ball zu dreschen. Niels Pape strahlt, auch, wie sich Diana und Laura, beide mit russischen Eltern in Hamburg geboren, um sie kümmern, gefällt ihm sehr. Er musste nicht viel dazu sagen. So macht man das, beim VC Allermöhe im BSFV Atlantik 97, seit vielen Jahren.
Mit ihren Eltern und dem acht Jahre alten Bruder wohnt Alina am Mittleren Landweg. Die erste Unterkunft nach der Flucht vor dem Krieg war deutlich schlichter. Nun gibt es stabile Wände. Ihr Leben, sagt Alina, sei im Prinzip das gleiche wie in Odessa, Schule, Sport, Freundinnen, im Edeka in Allermöhe gibt es eine Ecke mit russischen Artikeln, und überhaupt will sie nicht die Unterschiede betonen, sondern die Gemeinsamkeiten: „Ich fühle mich wohl hier und möchte in Deutschland bleiben.“ Über den Krieg würden sie nicht reden, übersetzt Diana. Dann schauen alle drei einmal kurz betreten zu Boden.
Diana, die eine Klasse höher zur selben Schule geht, erzählt, dass die beiden sich immer begrüßen auf dem Schulhof und sie Alina fragt, ob alles in Ordnung sei. Die beiden Mädchen wirken nicht, als verlange es ihnen viel ab, sich ein wenig um Alina zu kümmern.  Die vermisst ihren Opa in Odessa, das schon, ansonsten gebe es die typischen Probleme des Alltags: „Mein Bruder nervt. In Odessa hatten wir jeder ein Zimmer. Hier teilen wir uns eines“, sagt Alina und verdreht die Augen.
Alina ist sechs Tage im Auto unterwegs gewesen, damals im März, ehe sie in Hamburg ankam. Über die russischsprachige Gemeinde fand sie zum VC Allermöhe. Sie kam dann einfach mal zum Training und habe hier überzeugt, sagt Niels Pape. Sie spielt jetzt bei der U15/16 mit, einem Team, das in der U14 Hamburger Meister wurde – mit Diana.
Und es gibt auch schon Pläne. Volleyball-Profi wolle sie werden, sagt Alina. Wenn das nicht klappe, Hebamme. Oder geht vielleicht auch beides? Jetzt ist aber auch genug geredet. Und „er“ hat alles aufgeschrieben.


An einem anderen Ort in Hamburg verbiegen sich gerade 16 kleine Mädchen unter Oksanas strenger Aufsicht. Obwohl – streng? Eher mütterlich. Denn im nächsten Moment schmiegen sich die Mädchen wie Kätzchen an Oksana. Sie hat ein bewegtes Leben hinter sich und leitet seit 2017 die Kurse in der Rhythmischen Sportgymnastik bei der HT 16 an. 82 Kinder in drei Gruppen. „Sie starten mit zweieinhalb Jahren“, sagt Oksana, die die Disziplin ihrer ukrainischen Mädchen sehr schätzt: „Sie wollen immer weiter trainieren.“ Rhythmische Sportgymnastik, 1949 in der Sowjetunion geboren, sei in der Ukraine so beliebt wie Fußball in Deutschland.
An diesem Vormittag sind es allein sechs Mädchen, die relativ neu dabei sind. Ihre Eltern sind vor dem Krieg in der Ukraine nach Hamburg geflohen. Über russischsprachige Webseiten und eine russischsprachige Zeitung haben sie schnell gefunden, wo der Lieblingssport ihrer Kinder angeboten wird.
Die halbe Gruppe komme aus der Ukraine, berichtet Oksana, viele hätten durch den „erzwungenen Umzug“ monatelang nicht trainiert: „Der Sport hilft ihnen bei der Integration sehr. Wenn die Mädchen aus der Ukraine zu einer Trainerin in einem deutschen Sportverein kommen und ihre Sprache hören, fühlen sie sich wie zuhause.“ Nur 5 Prozent ihrer Gymnastinnen, schätzt sie, habe keine Migrationserfahrung. Was Oksana oft hört, ist, dass die geflüchteten Familien zurück in die Ukraine gingen, wenn der Krieg dort beendet sei.  
Oksana, studierte Historikerin, kam vor vier Jahren nach Hamburg, sie war 2014 aus Kiew nach Wien gezogen und hatte auch einige Zeit in Polen verbracht. Inzwischen lebt sie mit ihrem deutschen Mann im Alten Land in Jork; sie liebt es dort, wegen ihres schönen Hauses und der Ruhe. Sie war selbst eine großartige Sportgymastin. Fünf- bis sechsmal Training in der Woche, drei Stunden am Tag, das müssten Spitzenathletinnen aushalten. Das kann sie hier niemandem zumuten. An Wettkämpfen nehmen ihre Mädchen nicht teil – es geht um den Spaß an der Bewegung. Belastbarer als die deutschen Mädchen seien diese hier aber schon, sagt Oksana mit erfrischender Offenheit: „Die deutschen Kinder sagen: Aua, Spagat tut weh, das mache ich nicht. Die ukrainischen Kinder sagen das nicht.“
Auch etwas anderes hat Oksana festgestellt: „Alle hier bei HT16 wollen meine Mädchen, im Schwimmen, im Karate, weil sie so beweglich sind – aber ich gebe meine Mädchen nicht her!“
Oksana hat sich bei der HT 16 zu einer Marke entwickelt. Man plaudert mit ihr in einem Englisch-Deutsch-Mix; ihr fällt immer eine neue Geschichte ein. „Wer mich fragt, bekommt Hilfe, ich stelle Kontakte jeder Art her“, sagt sie, nicht ganz ohne Eigennutz: „Ich kriege hier so viel Energie zurück, ich fülle meine Batterien  auf.“ Und das war ziemlich schnell so. Oksana sagt: „Ich war zwei Wochen hier, da sollte ich schon für HT 16 Kurse leiten. Auch für meine Integration war das sehr gut.“
Für sie selbst sind diese Kurse mehr als Sport, denn sie gibt ihren Mädchen etwas mit auf dem Weg: „Sie werden sich ihr Leben lang an diese Stunden bei der HT16 erinnern“, sagt Oksana, „denn wenn sie hier zur Musik in einen Spagat fliegen, vergessen sie, was sie durchgemacht haben.“ Dann geht die Tür zur Halle auf, und ein kleines Mädchen, vielleicht fünf Jahre alt, kommt herein und drückt ihr ein Stirnband in die Hand. Sie hat es auf dem Flur gefunden. Ja, gut erzogen sind Oksanas kleine Gymnastinnen ganz bestimmt.

Text: Frank Heike


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