Grenzenlos im Plattenbau

Stützpunktverein Boxring 90 Suhl e.V. engagiert sich in der sportlichen Jugendarbeit im Plattenbaugebiet

Gemeinsam sind wir stark.
Gemeinsam sind wir stark.

Suhl-Nord im Ab- und Aufbruch

Die Tristesse der grauen Plattenbauten von Suhl-Nord vermischt sich mit dem feuchten Nebel, der das einstmals größte Wohngebiet der grünen Stadt inmitten der Berge des Thüringer Waldes in eine undurchsichtige Wolke hüllt. In den Siebzigern als Vorzeigeprojekt entwickelt und für die Tausenden Arbeiter gedacht, die im Zuge der sozialistischen Industrialisierung in die selbstbewusste Bezirksstadt nach Suhl kamen, um in der Fahrzeug- oder Waffenproduktion alles zum Wohle des Volkes zu tun, hatte Suhl-Nord 1994 seine größte Einwohnerzahl mit 14.075 Menschen erreicht. Heute leben noch 5.701 Menschen in dem von Leerstand, Abriss und unkoordiniertem Wegzug geprägten Stadtteil. 8.374 Bürger haben seit 1994 das Wohngebiet verlassen, eine Zahl, die unvorstellbar ist und eine gesamte vorhandene Infrastruktur ins Wanken bringt. In seriösen Prognosen zur Stadtentwicklung spielt Suhl-Nord in 15 Jahren keine Rolle mehr als Wohngebiet der Stadt Suhl. Dass ein solcher Bruch in der Stadtentwicklung mit Komplikationen einhergeht, ist nicht zu verhindern. Vor diesem Hintergrund werden seit mehreren Jahren Versuche von Rattenfängern aus dem rechtsextremen Lager beobachtet, solche Entwicklungen für ihre Zwecke zu missbrauchen. So konnte die NPD bei der Kommunalwahl 2004 speziell in Suhl-Nord Hunderte Stimmen sammeln. Dabei wohnen zurzeit im Norden der alten Waffenstadt gerade mal 280 Ausländer, die bei den Rechten immer wieder als Sündenbock für all die Probleme des darbenden Wohngebietes herhalten müssen.

Sport als sozial-gesellschaftliches Auffangbecken

Es ist ungemütlich, vergilbte Schneeberge liegen vor der sanierungsbedürftigen „Schneekopfhalle“, als ich aus dem Auto steige. Hier treffe ich mich mit Bernd Marr, Angestellter des Suhler Sportbundes im Rahmen des Jugendförderplanes der Stadt Suhl mit dem Schwerpunkt der Betreuung des Projektes Integration durch Sport sowie ehrenamtlich Trainer des Boxring 90 Suhl e.V. Die umliegenden Plattenbauten grenzen die Sicht ein, doch „Grenzenlos“, das Projekt zur Integration durch Sport, macht die Sicht für ganz andere Dinge frei, wie mir der impulsive und aufgeregt hin und her wuselnde Trainer später erläutert. Seit vier Jahren organisiert er hier im Auftrag der Stadt und des Suhler Sportbundes sogenannten „freien Sport“ für ein schwer zu definierendes Klientel. Es reicht von kleinkriminellen jugendlichen Ausländern über Sportler, die aus ihrem Sportverein rausgeflogen sind, bis hin zu deutschen Erwachsenen, die sich einfach mal sportlich ohne Zwang zur Vereinigung bewegen möchten. „Albaner, Russen, Iraker, Aserbaidschaner und Deutsche unter einen Hut zu bringen, ist nicht einfach. Dann kommen noch verschiedenste Traditionen der einzelnen Nationalitäten dazu, wo beispielsweise Mädchen keinen Sport mitmachen dürfen“, erläutert Marr. Von Montag bis Freitag, jeweils ab dem frühen Nachmittag, ist die Sporthalle mit seinen Gruppen voll. 60 bis 80 Kinder, Jugendliche und Erwachsene kreuzen dabei seinen wöchentlichen Arbeitsablauf. Kinderfußball, Volleyball, Tischtennis, Kinderzirkus und natürlich Boxen stehen auf dem Programm. Gerade beim Boxen sieht Bernd Marr große Potentiale, wenn er daran denkt, die Energie aggressiver Jungs mit gezieltem Training zu binden und in die richtigen Bahnen zu lenken.

Multi-Kulti im Seilgeviert

Drei Albaner kommen in die Halle und zappeln etwas unschlüssig hin und her. „Rein jetzt, Boxhandschuhe an und haut Euch auf die Rübe!“ Bernd Marr ist kompromisslos in seinen Befehlen. Die Kids kommen angerannt, geben ihm die Hand, ziehen sich Boxhandschuhe an und beginnen zu boxen. „Ich muss so mit denen reden, weil sie mich sonst nicht ernst nehmen.“ Er schaut auf seine Uhr. „30 Minuten zu spät. Wie will man da trainieren? Nein, das hier ist nicht so, wie wir das von früher kennen. Hier muss ich ganz anders auftreten. Hier würde ich als Pädagoge verzweifeln. Hier geht es darum, die Kids für den Sport zu interessieren und sie dann in einen Sportverein zu vermitteln, wo sie Sportsgeist und Manieren lernen.“ Er dreht sich zu ein paar Jungs um und lässt sie mit ihren Boxhandschuhen auf seine Tatzen schlagen. Nach wenigen Minuten tropft ihm der Schweiß von der Stirn. „Drei Brillen haben die mir dieses Jahr schon zerklopft!“. Er duckt sich, weicht einer Schlagserie aus. „Gut jetzt. Macht jetzt alleine weiter.“ Mittlerweile ist es ihm gelungen, das eigenartig einzigartige Sportangebot soweit zu etablieren, dass es aus Suhl-Nord nicht mehr wegzudenken ist. Während er früher die Kids vor dem Supermarkt oder den Bushaltestellen abholen musste, kommen sie heute zu ihm. Er hat Freundschaft mit einem großen Teil seiner „Spezies“ geschlossen, organisiert Ferienlager, Kanufahrten und Grillabende, bei denen auch die Familien der Kinder teilnehmen. Man kennt und respektiert sich auf der Straße. „Die Zielstellung“, so Bernd Marr, „liegt natürlich vordergründig darin, einen Großteil dieser Jungen und Mädchen hier bei uns in Suhl zu integrieren. Ich persönlich will sie alle in Sportvereine bringen, denn da sind sie gut aufgehoben und machen keinen Mist.“ Er erzählt von einigen Problemfällen, und wie oft die Kids, „nachdem sie Mist gemacht haben“, bei ihm „angekrochen kommen und betteln, dass sie wieder Sport machen können.

Erfolgserlebnisse als Fundament für Integration

Ich freue mich so sehr, wenn die Jungs erfolgreich sind.“ Daniel Veit zum Beispiel, über das Projekt „Grenzenlos“ zum Boxring 90 vermittelt, ist Thüringenmeister 2007, rappt in einer Suhler Band und ist Auszubildender zum Einzelhandelskaufmann. „Das macht mich stolz. Das ist Integration. Wenn das funktioniert, bleiben die Jungs auch sauber“, sagt der sympathische Suhler, der in den 90ern maßgeblichen Anteil an der Neustrukturierung des Boxens in Suhl hatte. Er lacht verschmitzt, reißt die Tatzen hoch und ein Schlaghagel des jungen Albaners Karabeth, der jüngst Vizemeister des Freistaates im Boxen geworden ist, pfeffert klatschend auf das Leder. Ich verlasse die Sporthalle, den hallentypischen Lärm, den Geruch von Schweiß und Umkleidekabinen und trete in den Nieselregen. Nicht weit entfernt von der „Schneekopfhalle“ hat der Suhler Sportbund seine Geschäftsstelle, gibt es sanierte Sporthallen, ein modernes gut ausgelastetes, privates Sport- und Fitnesscenter, einen Minibolzplatz, reichlich Fläche durch abgerissene Wohnblocks und über den Staatlich anerkannten Erholungsort Suhl-Goldlauter den direkten Zugang zum Thüringer Wald und zum Rennsteig. Vielleicht hat Suhl-Nord abseits der düsteren Zukunftsprognosen zur Plattenbautristesse ja ganz andere Chancen und Alternativen zum Überleben.


  • Gemeinsam sind wir stark.
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