„Ich finde die Idee der Zielgruppen schwierig“

Dr. Mark Terkessidis ist freier Autor und Migrationsforscher. Im Interview setzt er sich kritisch mit dem Integrationsbegriff und der Zielgruppenorientierung in Projekten und Sonderprogrammen wie dem Bundesprogramm „Integration durch Sport“ auseinander.

Foto: Andreas Langen
Foto: Andreas Langen

Herr Terkessidis, vor einigen Jahren haben Sie sich in Ihrem Buch „Interkultur“ recht kritisch zum Bundesprogramm „Integration durch Sport“ geäußert. Mittlerweile feiert das Programm sein 30jähriges Jubiläum. Sehen Sie fast zehn Jahre nach Ihrer Kritik auch Gründe zum Feiern?

Natürlich gibt es auch einen Grund zu feiern. Das Programm basiert ja darauf, dass sich Vereine an der Basis zu „Stützpunktvereinen“ erklären. Das bedeutet, dass diese Vereine in konkrete Arbeit einsteigen, Erfahrungen machen, einen Prozess starten. Und da lernt man sich kennen, da wird zusammengearbeitet und gestaltet, da lösen Leute gemeinsam Probleme. Und das sind die entscheidenden Erfahrungen. Ich glaube nur, dass diese Erfahrungen durch den Begriff „Integration“ ins falsche Fahrwasser geraten.

Was stört Sie an der Bezeichnung Integration?

Mich stört vor allem die ständige Trennung zwischen „uns“ und „ihnen“ - die macht doch überhaupt keinen Sinn mehr, wenn in Stuttgart oder Frankfurt drei Viertel der Unter-Sechsjährigen Migrationshintergrund haben. Zudem wird immer ein Defizit unterstellt, das dann in Sondermaßnahmen kompensiert werden soll. Anstatt aber immer neue Sondermaßnahmen und Projekte zu machen, sollten wir den Regelbetrieb anschauen und fragen: Ist dieser Regelbetrieb eigentlich an die reale Vielheit der Gesellschaft angepasst?

Sportwissenschaftliche Studien verweisen darauf, dass gerade „Menschen mit Migrationshintergrund“ im Regelbetrieb des organisierten Sports unterrepräsentiert sind. Benötigen Förderprogramme nicht Zielgruppen, um ihre Arbeit zu legitimieren?

Aus den genannten Gründen finde ich die Idee der „Zielgruppen“ schwierig. Was heißt denn „Migrationshintergrund“? Brauche ich „Integration durch Sport“ für die Kinder eines Arztes iranischer Herkunft, die Tennis spielen? Sind die Lebenslagen heute nicht komplizierter? Anderes Beispiel: Bei den Sprachstandsfeststellungen im Alter von vier Jahren zeigt sich, dass die Kinder, die eine andere Muttersprache sprechen, Defizite im deutschen aufweisen - wer hätte das gedacht? Allerdings haben ein Viertel der Kinder mit deutscher Muttersprache die gleichen Sprachdefizite! An denen schauen wir konsequent vorbei, wenn wir Sprachprobleme nur mit Migrationshintergrund in Verbindung bringen.

Lassen Sie uns in die Zukunft schauen: Sie sagen, dass Migrations- und Fluchtbewegungen Ausdruck einer gesellschaftlichen Normalität sind. Was bedeutet dies für die Entwicklung der Sportorganisationen in den kommenden Jahren?

Dass Einwanderung und die gesellschaftliche Vielheit tatsächlich der Normalfall sind, wird immer noch nicht so recht begriffen. Es geht darum, sich auf der Ebene der Organisation darauf einzustellen. Zum Beispiel ist es wichtig, in der Personalstruktur diese Vielheit auch abzubilden. Es geht darum, sich die Frage zu stellen, ob die Dinge, die man einfach immer so gemacht hat, für andere Personen diskriminierend wirken. Dabei ist die Frage nicht, wie man bestimmte Personengruppen „fördert“, sondern wie eine echte Zusammenarbeit möglich wird. Das bedeutet im Übrigen nicht, radikale Maßnahmen vom Zaun zu brechen, sondern eine längerfristige Strategie zu entwickeln: Wie stelle ich mich - ausgehend von dem, was gut funktioniert - auf die Zukunft ein. Und die großen professionellen Träger, die Verbände, sollten da vorangehen. Mit Trainings in interkultureller Kompetenz ist es da leider nicht getan.

Zum Schluss: Haben Sie selbst Erfahrungen mit dem Vereinssport?  

Ich bin im Rheinland geboren und immer Fan der Alemannia aus Aachen gewesen (schlimmes Schicksal), teilweise auch Vereinsmitglied. Seit ich nach Berlin gezogen bin, klappt es nicht mehr so mit den Stadionbesuchen. Aachen hat mal eine Konventionalstrafe bekommen, weil die Fans rassistische Sprüche gerufen haben - ganz zu Recht. Kurz danach war ein Verein aus dem Ruhrgebiet zu Gast. In der Fankurve begann dann der übliche Beschimpfungsgesang, der dann gleich wieder abebbte, als die Frage aufkam, ob das denn jetzt noch erlaubt sei. Interessante Situation, weil ich glaube, dass diese Verwirrung etwas sehr Produktives hat. Es gibt Stellschrauben für die Veränderung, aber keine Abhakliste. Wir müssen aber auch nicht immer perfekt sein, sondern wir brauchen auch den Raum zum Nachdenken, Planen und Fehler machen.

Interview: Robert Gräfe, LandesSportBund Niedersachsen



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