Die Kraft der Vorbilder

Stars mit Migrationshintergrund und bunte Nationalteams fördern die Integration: Das ist zunächst nur eine Behauptung. Stimmt sie? Versuch einer Antwort.

Fußballnationalspieler: Vorbilder für Topleistung und für gelungene Integration. (Foto: picture-alliance)
Fußballnationalspieler: Vorbilder für Topleistung und für gelungene Integration. (Foto: picture-alliance)

So feine Füße, so schmale Schultern. Und so viel Gepäck: Spätestens seit Oktober 2010 ist Mesut Özil kein Sportler wie jeder andere. „Er vertritt das neue Deutschland. Ein Teil Türke, einer deutsch – aber in Wahrheit ist er ein Junge aus Gelsenkirchen“, schrieb die „Hamburger Morgenpost“ anlässlich des EM-Qualifikationsspiels zwischen den beiden Ländern über den Mittelfeldstar. Die Aussage wie das Spiel verdeutlichten eindrucksvoll, was es heißen kann, ein Star zu sein. Für sich selbst und ein paar weitere Menschen ist Özil einfach nur Mesut. Viele andere sehen ihn als Symbol für das Zusammenleben von Kulturen in Deutschland.

Seit der WM 1998 in Frankreich umgibt den Fußball eine Debatte um die Ausstrahlung von Stars mit Migrationshintergrund und multikulturell besetzten Nationalmannschaften. In Deutschland wird sie seit 2006 geführt, verstärkt seit 2010. Nicht selten wird dabei eine integrierende Wirkung eines solchen Teams und/oder seiner Mitglieder behauptet. Aber gibt es das, Integration durch Vorbilder aus dem Leistungssport? Öffnet zum Beispiel ein buntes Nationalteam die Gesellschaft? Wenn ja, ist das auf den Fußball beschränkt? Der DOSB und seine Vermarktungsagentur Deutsche Sport-Marketing wollen die deutsche Olympiamannschaft nach innen und außen stärken, ihr ein Gesicht geben – ein Gesicht der Integration? 2008 in Peking starteten immerhin 39 Athleten mit Migrationshintergrund für Schwarzrotgold.

Das Thema ist hochspannend – auch weil es so wenig empirisches Material gibt. Man kann nur mutmaßen, wie Mesut Özil oder die im Kosovo geborene Muslimin Fatmire Bajramaj, inwiefern der halbirakische Triathlet Fasir Al-Sultan (siehe Interview des Monats) oder die armenische Boxerin Susianna Kendikian durch Erfolg zwischen Kulturen vermitteln. Ob ein „so genanntes multikulturelles Nationalmannschaftsteam im Fußball“ bedeutend sei „für das Gelingen von Integration in anderen Gesellschaftsbereichen“, ist nach Kenntnis von Eike Emrich, Saarbrücker Sportsoziologe und -ökonom, ebenfalls ungeklärt.

Umso mehr tut eine Annäherung ans Thema Not. Emrich, lange Jahre Vizepräsident Leistungssport im Deutschen Leichtathletik-Verband, trifft zunächst eine prinzipielle Unterscheidung: „Junge Menschen bewundern medial erzeugte Stars - was nicht bedeutet, dass sie diesen auch nacheifern.“ Ein Star werde erst dann zum Vorbild, wenn er sich „konsequent für bestimmte, auch außerhalb des Sports geltende Werte“ einsetze. Sein Beispiel: Uwe Seeler.

Klar ist aber auch: ohne Öffentlichkeit keine Bekanntheit, und ohne Bekanntheit keine Vorbildwirkung. Deshalb und weil keine andere Sportart vergleichbar viele Kulturen überspannt, muss in dem Zusammenhang zuerst von Fußball die Rede sein. Nach  Angaben des DFB hat etwa jedes fünfte DFB-Mitglied einen Migrationshintergrund. 

Die Kulturen zusammenzuführen, diesen Anspruch erhebt einerseits das DOSB-Programm „Integration durch Sport“, respektive Stützpunktvereine wie der Hamburger Mädchenfußballverein FC Elbinsel Wilhelmsburg (siehe Thema des Monats Mai). Der DFB tut das seine: durch interne Kommunikation - etwa in Form interkultureller Kompetenzschulung im Rahmen der Trainerausbildung - und durch medienrelevante Aktionen, auch mit Vorbildern. Seit der Männer-EM 2008 etwa läuft regelmäßig ein TV-Spot mit den Eltern von Nationalspielern und -spielerinnen unterschiedlicher Herkunft, die sich zum Kick ihres Nachwuchses an Grill und Fernseher treffen – Stichwort „Más Integración“. 

„Wir haben unsere Materialien praxisorientiert angelegt, sodass sie von vielen Mitgliedern der Fußballfamilie anerkannt und genutzt werden“, sagt Gül Keskinler, Integrationsbeauftragte des DFB. Ein Indiz für Fortschritte erkennt sie in der Entwicklung bei den Ehrenamtlichen mit Migrationshintergrund: Ihr Anteil in den (reinen) Fußballvereinen ist laut DFB von 7,2 Prozent im Jahr 2007 auf gut 13 Prozent 2009 gestiegen. Das entspricht dem Gesamttrend in Sportvereinen, auf allerdings höherem Niveau. 

Das Hauptziel allerdings liegt nicht im Zuwachs an Mitgliedern, sondern an Bewusstsein, und zwar auf zwei Seiten: bei Migranten wie Mehrheitsgesellschaft. Da setzt der DFB den gleichen Akzent wie „Integration durch Sport“. Keskinler: „Unsere Botschaft ,Integration fängt bei mir an', drückt es aus: Wir richten uns an alle Menschen, jeder kann einen Beitrag leisten.“ 

Eine Frage scheint auf: Entwickelt sich die Zugkraft von Topathleten entlang kultureller Bande? Torsten Hartmann, Sprecher des Deutschen Turner-Bundes, hat nicht den Eindruck. In der DTB-Männerriege stehen neben Fabian Hambüchen und Philipp Boy etwa Marcel Nguyen (Halbvietnamese), Matthias Fahrig (Halbkubaner) und Eugen Spiridonov (gebürtiger Russe): „Die kommen alle gut an. Einfach weil sie coole Jungs sind“, sagt Hartmann.

Über eine spezielle Fußball-Zielgruppe kann man unter diesem Aspekt sogar Genaueres sagen. Eine Studie, 2010 an der European Business School  im Rheingau ins Feld geführt, untersuchte den Integrationseffekt von Profifußball anhand 1500 Nachwuchsspielern in Leistungszentren der beiden Männer-Bundesligen. Im Studienbericht heißt es: „Geht es um ihre Vorbilder, denken die befragten jugendlichen Ausländer und ihre Altersgenossen mit Migrationshintergrund – anders als der Großteil ihrer deutschstämmigen Altersgenossen – nicht primär in nationalen Grenzen. [...] Das fußballerische Können ist weit wichtiger als die Herkunft, Vereinszugehörigkeit, der soziale Status oder das äußere Erscheinungsbild ihrer Idole.“ 

Leider: Das gibt keinen grundsätzlichen Aufschluss über die magnetische Wirkung von Stars. Emrich hält es zwar für „durchaus wirksam, wenn zugewanderte Athleten erfolgreiche Leistungssportler werden“ - allerdings nur „in bestimmten Bereichen“. Natürlich wird sich der Effekt nach Sportart unterscheiden: „Boxen ist nicht mit Golf oder Hochseesegeln vergleichbar“, so Emrich. Kampfsportarten böten „ein hohes Maß an Anschlusskapazität für bestimmte, männliche Migrationsgruppen“. Der Wissenschaftler ergänzt: „Der Effekt dürfte in einem Verein umso stärker werden, je größer die kritische Masse wird, das heißt je mehr Personen gleicher Herkunft sich dort zusammenfinden.“ 

So scheint das bei SC Colonia Köln zu laufen. Der älteste deutsche Boxverein hat nicht nur Artur Bril hervorgebracht – der in Usbekistan geborene Sohn einer deutschstämigen Mutter gewann 2010 bei der Junioren-WM und den Olympischen Jugendspielen Gold und gilt als Mustertalent -, sondern weitere Spitzenathleten mit Migrationshintergrund. „Dank der Erfolge haben wir sehr hohen Zulauf von Kindern und Jugendlichen“, sagt Geschäftsführer Franz Zimmermann. Der Anteil der Kinder mit ausländischen Wurzeln wächst dabei seit Jahren. Laut Zimmermann kommt der Nachwuchs aus 15 verschiedenen Nationen.

Man mag annehmen, dass Jungs sich durch Leistungsvorbilder tendenziell stärker angesprochen fühlen als Mädchen. Dennoch gibt es gewisse Parallelen zwischen dem SC Colonia und dem Frauen-Lesben-Verein Seitenwechsel. Die Berliner Institution, in etwa 20 Sportarten aktiv, betreibt intensive Jugendarbeit und hat etwa im Basketball einen Migrantinnenanteil von 90 bis 95 Prozent. Projektmanagerin Roswitha Ehrke sagt: „Die Mädchen orientieren sich wohl eher an unseren Trainerinnen und nicht an so etwas sehr entferntem wie etwa Nationalspielerinnen“. Das ist das Gegenteil einer Absage ans Vorbildkonzept. So legt Seitenwechsel laut Ehrke großen Wert darauf, „Frauen mit Migrationsanteil“ als Trainerinnen zu beschäftigen und generell weibliche Vorbilder zu präsentieren. Im Boxen, ein Schwerpunkt des prinzipiell nicht leistungsorientierten Vereins, zählt die deutsche Vizemeisterin Christina Ahrens zu den Trainerinnen. „Frau Ahrens ist sicherlich ein Vorbild – vor allem ein Greifbares“, sagt Ehrke. Greifbar wie Artur Bril in Köln. 

Ehrke glaubt an einen „indirekten“ Einfluss medienpräsenter Spitzensportlerinnen auf ihre Arbeit. Allerdings hebt sie weniger auf Herkunft ab als auf Geschlecht, auf die Gewöhnung an das Bild sporttreibender Frauen, speziell auch der Eltern. Im Sinne von Integration durch Sport ist das zentral. Nur ein Drittel der deutschen Sportvereinsmitglieder mit Migrationshintergrund sind Frauen und Mädchen, auch im DFB etwa sind sie unterrepräsentiert Nicht umsonst hat der DOSB das Projekt „Migrantinnen in den Sport“ initiiert. Nicht umsonst schrieb „Der Spiegel“ im Juni eine Geschichte zu dem Thema: „Die verlorenen Töchter“.

Gerade Musliminnen haben es oft schwer, den Konflikt zwischen ihren Wertvorstellungen oder denen ihrer Familie mit den Vereinsrealitäten zu vereinbaren. Solche und andere interkulturellen Klüfte zu überwinden, braucht Dialog, diese Erfahrung machen engagierte Vereine täglich. Stars und Vorbilder, das ist klar, können diesen Dialog ermöglichen, in dem sie einen Leistungsansporn setzen, jedenfalls Lust auf Sport machen. Aber sie können ihn nicht ersetzen. Interkulturelle Vermittlung, Integrationsarbeit an sich, findet an der Basis statt.


  • Fußballnationalspieler: Vorbilder für Topleistung und für gelungene Integration. (Foto: picture-alliance)
    Fußballnationalspieler: Vorbilder für Topleistung und für gelungene Integration. (Foto: picture-alliance)