Die Zeit nach der Flucht

Im Gespräch mit Alexander Babenko und Bernd Bockmeyer von der KTG Heidelberg

 

Bernd Bockmeyer und Alexander Babenko. Foto: KTG Heidelberg.
Bernd Bockmeyer und Alexander Babenko. Foto: KTG Heidelberg.

Vor 19 Monaten eskalierte der seit 2014 schwellende Russisch-Ukrainische Krieg durch den Einmarsch von russischen Einheiten in die Ukraine. Die Schreckensbilder und -nachrichten haben eine Welle der Fassungslosigkeit ausgelöst, gleichzeitig aber auch eine internationale und solidarische Friedensbewegung, die eine sofortige Beendigung der russischen Kampfhandlungen fordert. Millionen von Menschen mussten aus ihrer Heimat fliehen. An den internationalen Grenzen, an denen Geflüchtete aus der Ukraine ankamen und kommen, wird mit viel Engagement humanitäre Hilfe geleistet. Auch in Deutschland sind zahlreiche Geflüchtete aufgenommen worden und der Wille zu helfen ist damals wie heute sehr groß.

Viele Sportvereine in Nordbaden haben Angebote und Maßnahmen in die Wege geleitet, um Geflüchteten aus der Ukraine das Ankommen und Bleiben in Deutschland zu erleichtern, Teilhabe am gesellschaftlichen Miteinander zu ermöglichen und somit ein Stück „Normalität“ und Ablenkung in diesen schweren Zeiten zu bieten.

 

Eine lange Freundschaft

 

Die Kunstturngemeinschaft (KTG) Heidelberg pflegt seit knapp 30 Jahren enge freundschaftliche und sportliche Beziehungen zum Turnzentrum Cherson in der Ukraine. Die Nachricht über die Ausschreitungen in der Ukraine vor über einem Jahr berührte die KTG dementsprechend zutiefst. Es stand außer Frage, dass die KTG ihren Freund*innen aus der Ukraine helfen werden. Die KTG Heidelberg ist ein Zusammenschluss aus vier Heidelberger Vereinen, unter anderem dem TSV Pfaffengrund, der seit 2022 IdS-Stützpunktverein ist. Bernd Bockmeyer, Gründungsmitglied und Trainer bei der KTG Heidelberg und Vertreter der Stammvereine sowie Alexander Babenko, der im April 2022 aus der Ukraine nach Heidelberg kam und als Kunstturntrainer bei der KTG Heidelberg tätig ist, berichten von ihren Eindrücken und Erfahrungen der vergangenen Monate und zeigen, wie Sport durch Freundschaften und einem gemeinsamen integrativen Gedanken, Solidarität und Zusammenhalt generieren kann.

Bereits seit 1996 besteht ein freundschaftlicher und sportlicher Austausch zwischen den Turner*innen der Bundesligamannschaft der KTG Heidelberg und dem Turnzentrum in Cherson. Diese Verbindung wurde vor allem durch die Städtepartnerschaft der Stadt Heidelberg mit der Hauptstadt der autonomen Republik Krim, Simferopol, etabliert. Bernd Bockmeyer und Alexander Babenko trafen 1997 das erste Mal bei einem Austausch aufeinander. Im darauffolgenden Jahr kam Alexander Babenko mit zwei weiteren Turnern, Alexander Beresch und Sergei Wialtsew, nach Deutschland und wohnten bei Bernd Bockmeyer. Insbesondere Alexander Beresch, der mehrere nationale und internationale Titel gewinnen konnte sowie Bronzemedaillengewinner bei den olympischen Spielen 2000 in Sydney war, trainierte lange Zeit bei der KTG Heidelberg und wechselte später nach Stuttgart. 2004 war Bernd Bockmeyer bei einem Gegenbesuch in Cherson dabei. Er berichtet: „Das war natürlich eine sehr prägende Erfahrung. Einerseits kulturell – uns wurde die Gegend gezeigt, wir waren auch auf der Krim, lernten die ukrainische Kultur kennen – andererseits war ich aber auch sportlich zutiefst beeindruckt, wie viel Know-how im Turnzentrum Cherson vorhanden war. Das hat uns in jederlei Hinsicht sehr bereichert.“

 

Die Zeit nach der Flucht

 

Als die Nachrichten über den russisch-ukrainischen Krieg sich im vergangenen Jahr weiter zuspitzten war Bernd Bockmeyer und seinen Kolleg*innen klar: „Wir werden helfen wo wir können! Alexander und seine Frau kamen mit dem Reisebus. Sie hatten nur das dabei, was sie schnell zusammenpacken und tragen konnten. Wir haben Alexander und seine Frau bei uns aufgenommen und auch andere Sportsfreund*innen haben Geflüchtete aus der Ukraine Unterkünfte anbieten können.“ Diesen ersten Soforthilfsmaßnahmen folgten weitere Unterstützungsleistungen, die weit über das Sporttreiben hinaus gingen: „Wir haben Behördengänge mitorganisiert und unsere Freund*innen begleitet, wir haben Alexander und seiner Frau geholfen eine Wohnung zu finden, wir konnten ihm eine Trainertätigkeit bei der KTG besorgen und seine Frau freut sich, in der Gymnastikgruppe mittrainieren zu können und mit anderen Leuten in Kontakt zu kommen.“

Für Alexander Babenko war dieser Schritt eine absolute Ausnahmesituation. Er berichtet: „So komisch das klingt, aber einerseits war ich froh, dass wir gegangen sind, obwohl ich andererseits einen Teil meiner Familie zurücklassen musste. Aber ich weiß, dass sie sicher sind, sie sind mittlerweile in Polen. Aber in der Nacht habe ich kein Auge zugemacht und war in sehr großer Sorge. Jetzt sehe ich Bilder aus meiner Heimat oder bekomme Infos, die mich traurig machen. Der Dammbruch vom Kachowka-Stausee hat mich sehr berührt oder die Turnhalle, in der wir so viele Jahre trainiert haben, ist mittlerweile komplett zerstört. Meine Trainerkolleg*innen sind überall auf der Welt verteilt. Wir sind jeden Tag in Kontakt und tauschen uns über Privates und das politische Geschehen aus.“

 

Offenheit und Wohlwollen als Basis der Integration

 

Die großen Schlagwörter wie interkulturelle Öffnung, integratives Engagement und weltoffenes Miteinander werden in herausfordernden Zeiten besonders laut in der medialen Öffentlichkeit gefordert. Jedoch erweist sich die Frage nach dem „Wie“ bei der praktischen

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Umsetzung dieser integrativen Theorie oftmals als überfordernd.

Bernd Bockmeyer und Alexander Babenko zeigen eindrücklich, dass es oft die kleinen Dinge sind, die die Integration vorantreiben. Alexander Babenko beschreibt seine ersten Wochen in Deutschland: „Da war zum einen immer noch die Sorge um die Heimat und um alle, die noch dort sind. Und hier ist alles anders, alles neu und auch als Trainer war es anders. Ich muss pädagogisch ganz anders mit den Kindern hier trainieren als in der Ukraine, das war für mich auch eine interessante Erfahrung.“  Bernd Bockmeyer ergänzt: „Als Nationaltrainer in der Ukraine, hatte er Kindertrainingsgruppen, die vorab schon einen gewissen Auswahlprozess mit hohen Kriterien durchlaufen haben. Die Kinder hatten ein anderes turnerisches Niveau und Leistungsgedanken. Bei uns sind Kinder aus dem Breitensport dabei und der Spaß an der Bewegung steht mehr im Vordergrund.“ Alexander Babenko führt weiter aus: „Genau, das war am Anfang dann schon eine Umstellung. Aber die Kinder haben mich so freundlich und lieb aufgenommen und mit meinen Kolleg*innen verstehe ich mich super. Das hat in der Einfindungsphase sehr geholfen. Ich fühle mich hier sehr wohl und meine Arbeit als Trainer hilft mir mich abzulenken.“

Dies deckt sich auch mit Alexander Babenkos Verständnis von Integration: „Integration ist für mich Erfahrungsaustausch, Zusammenarbeit und persönlicher Kontakt. Ohne Kommunikation geht es nicht. Wir müssen miteinander sprechen, damit wir uns verstehen. Und Sprechen braucht oftmals keine Sprache.“ Bernd Bockmeyer pflichtet bei: „Im Sport braucht es nicht viele Worte, es sind die kleinen Gesten, manchmal reichen sogar Blicke oder ein freundliches Lächeln, die vermitteln und die deutlich machen, ich verstehe dich, deine Situation und wenn du etwas anders machst, als ich es gewohnt bin, ist das okay – und dieses Verständnis und die Akzeptanz braucht es auf beiden Seiten! Integration ist ein Geben und Nehmen, das in keinem Fall eine Belastung darstellt. Im Gegenteil. Wir profitieren so sehr von Alexanders Wissen und wir entwickeln uns dadurch weiter.“

 

Herausforderungen bei der Integration

 

Integration kann in vielen Fällen aber nicht nur mit kleinen Gesten und Akzeptanz gelebt werden. Bernd Bockmeyer berichtet: „An der einen oder anderen Stelle kann es schon schwierig werden. Beispielsweise wenn eine Trainerin die Ausführung korrigiert und Personen aus kulturellen oder religiösen Gründen es nicht gewohnt sind von Frauen Anweisungen zu bekommen und dies ablehnen, dann muss man sich positionieren und auch klare Ansagen machen, dass in unserem Verein und in unserem gesellschaftlichen Gefüge die Gleichstellung von Mann und Frau ein wichtiger Teil unseres Wertekanons ist, ohne dabei den Glauben oder die Prägung der anderen Person zu untergraben.“ Fingerspitzengefühl in der Kommunikation ist dabei das A und O. So betont Bernd Bockmeyer außerdem: „Vor allem bei Kindern und Jugendlichen ist es besonders wichtig Verständnis zu generieren. Zehn Minuten vor oder nach dem Training reichen manchmal schon aus, um sich zu positionieren oder um Dinge anzusprechen, die nicht in Ordnung waren oder sind. Was man da in diesen zehn Minuten investiert, ist ein enormer Mehrwert für das gesellschaftliche Miteinander und um gegenseitiges Verständnis zu entwickeln.“

Einbeziehung in sportliche Abläufe und ins soziale Gefüge, Informations- und Erfahrungsaustausch, soziale Kontakte und zu helfen, wenn Menschen in Not sind, sind für Bernd Bockmeyer essenzielle Bestandteile einer integrativen Arbeit im Sportverein und in der Gesellschaft. Kulturelle Öffnung und Integration gelingt für ihn vor allem durch Offenheit, Gespräche und Verständnis. Alexander Babenko meint: „Und genau für diese Menschlichkeit bin ich sehr dankbar. Das hat uns so sehr geholfen hier anzukommen.“

 

BSB Nord


  • Bernd Bockmeyer und Alexander Babenko. Foto: KTG Heidelberg.
    Bernd Bockmeyer und Alexander Babenko. Foto: KTG Heidelberg.