F.A.Z. vom 24.11.2005: Berlins Senator Böger will Mädchen aus islamischen Familien mit Hilfe des Sportunterrichts einen Weg in ihr eigenes Leben anbieten

BERLIN. Für sein Männerwort von der "klaren Kante" lobten die Frauen Klaus Böger. Die Kultusminister der anderen Länder sollten dem Beispiel des Berliners folgen, empfahl etwa Ilse Ridder-Melchers, die die Frauen im Deutschen Sportbund vertritt. "Das ist ein Vorbild, es ähnlich zu machen."

Harte Linie zur Befreiung vom Diktat des Patriarchats

 

Böger stellte seine harte Linie in der Integrationspolitik Berlins am Montag einer Konferenz vor, die sich im Schöneberger Rathaus mit der "Integration von Mädchen und Frauen mit Migrationshintergrund im und durch den Sport" beschäftigte. Der Senator für Bildung, Jugend und Sport von der SPD will nicht mehr zulassen, daß jungen Mädchen, insbesondere aus Familien mit islamischem Hintergrund, der Weg in die Gesellschaft, wie ihn der Schulunterricht öffnet, verstellt wird. In Berlin nehmen die Fälle dramatisch zu, in denen Eltern ihre Kinder aus religiösen Gründen vom Biologieunterricht, von Klassenfahrten und eben vom Sport befreien lassen. "Am Ende geht das bis zu Büchern, die man nicht lesen darf", warnte Böger.

 

****************************************

Der Artikel als .PDF-Download

****************************************

 

 

In entsprechenden Kreisen kursieren Vordrucke der Befreiungs-Anträge und Adressen von Ärzten, die mit Attesten und Krankschreibungen helfen. "Wenn die schreiben: Gelenkschaden, können wir nichts machen", klagt Böger. Die Berliner CDU diskutiert schon, Schüler in Zweifelsfällen dem Amtsarzt vorzuführen. 13 Prozent der Einwohner der Stadt sind Ausländer, ein Drittel der Schulanfänger in der Stadt entstammen nichtdeutschsprachigen Familien.

 

Man könnte zwar sagen, religiöse Gründe seien legitime Gründe, führte Böger aus. "Wir werden das aber nicht mehr tun." Er habe, um sich einen Überblick zu verschaffen, zu Beginn des Schuljahres im August die Schulen angewiesen, ihm alle Fälle von Befreiung vom Unterricht zu melden. Dies sei der erste Schritt. Dem Hinschauen werde eine Regelung folgen und dieser der Versuch, sie umzusetzen. "Ich werde die Kolleginnen und Kollegen in Rechtsfragen nicht allein lassen", versprach der ehemalige Lehrer Böger. "Die Schulpflicht bietet eine emanzipatorische Chance, Migrantinnen den Weg in ihr eigenes Leben zu ermöglichen, anders als manchmal die Familie oder die Religion im Hintergrund."

 

Der Senator will Respekt vor religiösen Gebräuchen üben und mit Migrantenorganisationen zusammenarbeiten. Ilse Ridder-Melchers schlägt vor, zur größeren Akzeptanz die Rahmenbedingungen zu ändern - nicht nur für muslimische Mädchen. Auch Übergewichtige, so argumentiert sie, seien während der Pubertät womöglich in koedukativem Sportunterricht überfordert. "Physische Ertüchtigung wäre Aufgabe genug", sagte Böger. "Aber Sport stärkt auch die Persönlichkeit." Er lehre Fair play, Kooperation, Konzentration, Selbstwertgefühl und Risikobereitschaft. Deshalb bleibe es in Berlin bei drei Sportstunden pro Woche. Böger beruft sich bei seiner Linie, den Sportunterricht allen Schülerinnen zugänglich zu machen, auf zwei Hamburger Gerichtsurteile, in denen im Streit um die Befreiung vom Sexualkundeunterricht der Erziehungsauftrag des Staates dem Erziehungsrecht der Eltern gleichgestellt wurde. Eltern müßten Abstriche von einer absolut gesetzten Weltanschauung hinnehmen, heißt es darin.

 

Die harte Linie soll den Mädchen helfen. Sabine Seidenstücker, Erziehungswissenschaftlerin an der Universität Erlangen-Nürnberg, befragte 1850 Schülerinnen und Schüler in Sindelfingen, von denen zwölf Prozent einen türkischmuslimischen, weitere 14 Prozent einen anderen Migrationshintergrund haben. Das Ergebnis ist eine überwältigende Zustimmung zum Sportunterricht, besonders bei Migranten-Mädchen. Dabei könne Sport mit dem türkisch-muslimischen Gebot zur Beaufsichtigung von Mädchen, zur Verhüllung des Körpers und zur Geschlechtertrennung kollidieren, sagt Sabine Seidenstücker. Der Zugang zu Bewegung und Sport durch die Schulpflicht sei jedoch das "allergrößte Benefit". Sie begrüßt, wie die Mehrzahl der Expertinnen, Bögers Kurs, Mädchen zumindest zeitweise vom Diktat patriarchalischer Parallelgesellschaften zu befreien. Mehr als zwei Drittel der türkisch-muslimischen Migrantenmädchen gaben dem Sportunterricht beste Beliebtheitsnoten; zehn Prozent lehnten Sport strikt ab. In dieser Zustimmung wie auch im Fehlen eines expliziten Sportverbots im Koran sieht die Wissenschaftlerin ein Potential.

 

Allerdings könnte es besser genutzt werden, findet sie, wenn Schulen Kampfsport, wie er Migrantinnen stark anspricht, anbieten würden. Am Vorbild ihrer Brüder orientiert, nicht selten von den Vätern gebracht, entwickelten türkisch-muslimische Mädchen auch deshalb einen starken Hang zum Kampfsport, weil sie dort in langen Ärmeln und langen Hosen agierten und weil sie lernten, sich selbst verteidigen zu können. Die Kultusministerkonferenz verbietet gefährliche Schlagtechniken im Schulunterricht.

 

"Wir brauchen mehr Wissen", fordert Ilse Ridder-Melchers und kündigt weitere Untersuchungen an. "Wir brauchen eine Vereinsberichterstattung", verlangt die Erziehungswissenschaftlerin Christa Kleindienst-Cachay von der Universität Bielefeld. "Wir brauchen eine qualitative Untersuchung über das, was Mädchen daran hindert, Sport zu treiben." Der Sport allein sei überfordert. Womöglich, schlägt Christa Kleindienst-Cachay vor, sollten Kommunen eigene Integrationsvereine gründen.

 

MICHAEL REINSCH