Frauen gewinnen

Das Netzwerkprojekt „Bewegung und Gesundheit – mehr Migrantinnen in den Sport“ ist vorerst beendet. Eine Broschüre dokumentiert, was die Beteiligten voneinenander gelernt haben.

Migrantinnen sind im Sport nach wie vor unterrepräsentiert. (c) LSB NRW | Foto: Erik Hinz
Migrantinnen sind im Sport nach wie vor unterrepräsentiert. (c) LSB NRW | Foto: Erik Hinz

Sport mit Zugabe, das war die Idee, und sie hat ein buntes Bild geschaffen. Über 70 verschiedene Projekte hat das DOSB-Projekt „Bewegung und Gesundheit – mehr Migrantinnen in den Sport“ seit 2008 gefördert, von Selbstverteidigung mit Clownerie-Theater für 10- und 11-jährige beim Budo-Club Berlin bis Frauenschwimmen mit „Palaver“ (Gesprächskreis plus Deutschkurs) bei der DLRG-Ortsgruppe Waldshut-Tiengen. Neben dem integrativen Ziel verbindet sie der Geist der Kooperation: zwischen dem Sport und kommunalen Einrichtungen wie Schulen und Volkshochschulen, Integrationsbeauftragte und Frauenbüros, Wohlfahrtsverbänden und Gesundheitsdiensten.

Nun lässt sich nachlesen, wie all das Netzwerken funktioniert hat. Nach dem vorläufigen Ende des vom Bundesgesundheitsministerium finanzierten Projekts im Februar 2011 – eine Fortsetzung 2012 ist in Planung – hat der DOSB eine Dokumentation vorgelegt. Sie hinterleuchtet das Programm, an dem 20 Vereine und Ortsgruppen aus fünf Verbänden mitgearbeitet haben: Deutsche Lebens-Rettungs-Gesellschaft, Deutscher Ju-Jutsu-Verband, Deutscher Turner-Bund,  Landessportverband Baden-Württemberg und Sportjugend Berlin; auch einige Stützpunktvereine von „Integration durch Sport“ waren eingebunden. Die Broschüre stellt Hintergrund und Ansatz des Projekts vor, skizziert Praxisbeispiele und beschreibt Erkenntnisse des Ganzen. (Bestellung unter www.integration-durch-sport.de >> Kontakt)

Das Fazit

„Zentrales Anliegen“ des Netzwerkprojekts war es laut DOSB-Vizepräsidentin Ilse Ridder-Melchers, „verschiedenste Varianten auszuprobieren, um herauszufinden, welche Ansprache notwendig ist und welche Hürden Migrantinnen davon abhalten, am Vereinssport teilzunehmen.“ Unter welchen Umständen also wirkt die Zugabe, die in der Formel „Sport plus X“ auf den Punkt gebracht wird, und was ist daraus zu lernen? Natürlich hat jeder Verein eigene, zum Teil sehr überraschende Erfahrungen gemacht. Die Dokumentation spiegelt sie in Aussagen von Übungsleiterinnen und Tipps am Rande der Projektskizzen. Sie gehören ebenso zu den spannendsten, aussagestärksten Teilen der Broschüre wie das Kapitel „Schlussfolgerungen und Handlungsempfehlungen“ - und darin vor allem der Abschnitt „Was haben wir über Migrantinnen gelernt?“.

Dort ist zunächst festgehalten, dass es die (typische) Migrantin nicht gibt und sich die meisten Teilnehmerinnen nicht als Frauen mit Migrationshintergrund verstanden – sondern einfach als Frauen. Weiter heißt es, Sport- und Zusatzangebote seien auf große Offenheit gestoßen, wobei das Interesse aus Lust an Neuem, an Gesundheit und darin begründet liege „nette Menschen kennenzulernen“. Entsprechend zum Beispiel der Erfahrung, die die DLRG-Ortsgruppe Wolfsburg mit ihrem Anfängerinnen-Schwimmkurs plus Frauenfrühstück machte. Letzteres habe „sehr großen Anklang“ gefunden, sagt Übungsleiterin Petra Brosig. Denn: „Hier konnten die Frauen diskutieren und sich austauschen.“

Veränderung vollzieht sich nicht von jetzt auf gleich, aber sie vollzieht sich, Einfühlung vorausgesetzt. Auch diesen Lerneffekt belegt die Broschüre im Praxisteil. Etwa am Beispiel von Petra Dobiasch und dem von ihr geleiteten Kurs Gymnastik für Einsteigerinnen beim SV Gehrden: „Die Sporterfahrung der Frauen lag praktisch bei null. Wir mussten ganz von vorn und sehr behutsam anfangen. Das Tragen von Kopftuch oder Tunika hatte ich ausdrücklich erlaubt, denn die Kleidung sollte keine Rolle spielen. Ich wollte die Frauen ja kennenlernen, sie sollten sich wohlfühlen.“ Nach dem Schnupperkurs seien alle dabeigeblieben.

Der Lohn für Geduld und Zuwendung der Netzwerker waren das Vertrauen der Gegenseite, sportlich-koordinative Entwicklungen, Freude, Stolz, wachsendes Selbstbewusstsein der Teilnehmerinnen. Und hier und da neue Mitglieder, etwa durch das Weitertragen der Sportbegeisterung in die Familien der Migrantinnen.

Was ist zu tun?

In weiteren Abschnitten von „Schlussfolgerungen und Handlungsempfehlungen“ fasst die Dokumentation verstärkt praktische Hinweise zusammen. Dies unter den folgenden drei Aspekten:

„Wie und wo erreichen wir Migrantinnen?“
Was das „Wo?“ betrifft: Mädchen und ihre Eltern am besten über Kindertagesstätten und Schulen, Erwachsene etwa über Volkshochschulen. Migrantinnen im Allgemeinen zudem über öffentliche und freie Einrichtungen am Ort, etwa Bürgerzentren und Anbieter von Sprach-, Handarbeits-, oder Kochkursen. Das beantwortet in Teilen auch das „Wie?“: Erstens hatten die Vereine mehr Erfolg, wenn sie die Frauen persönlich ansprachen – über solche Einrichtungen – statt beispielsweise (nur) durch Flyer. Zweitens erwies sich der Anschluss an bestehende Netzwerke als zielführend, um die Wirkung zu steigern. Ein anderer Antwortteil berührt eigentlich Selbstverständliches: „Freundlichkeit und Respekt schaffen Vertrauen“.

„Worauf gilt es bei der passgenauen Angebotserstellung zu achten?“
Auf mehr, als hier aufgeführt werden kann. Grundlegend für die Akzeptanz ist, den Bedarf der Teilnehmerinnen zu ermitteln: Die Vereine müssen so flexibel wie sensibel sein, um die Geschmäcker zu treffen – die nach Person und Zeitbudget, zudem nach kulturellem Hintergrund variieren. Natürlich gibt es allgemeine Empfehlungen: eine vertraute Umgebung zum Beispiel, Kinderbetreuung und kurze Wege, eine Eingewöhnungsphase. Männer sollten eher draußen bleiben, Trainingsstätten Möglichkeiten zum Sichtschutz bieten, die Kursterminierung auf religiöse und traditionelle Gepflogenheiten abgestimmt sein - auf Ramadan zum Beispiel.

■  „Wie machen wir unsere Vereine fit für die Zukunft?“
Durch den Einsatz interkulturell kompetenter Übungsleiterinnen und durch Maßnahmen, die den ganzen Verein als Umfeld der Teilnehmerinnen und Trainerinnen sensibilisieren. Zum Beispiel auch durch Formen der Mitgliedschaft (wie eine zeitliche Befristung) und durch Angebote an Migrantinnen, sich in die ehrenamtliche Vereinsarbeit einzubringen. Zudem, das hat das Projekt bestätigt, erleichtern Partnerschaften und Netzwerken die Ansprache der Zielgruppe.

Migrantinnen im Sport - Zahlen und Fakten

Laut statistischem Bundesamt hatten 2009 rund 16 Millionen der in Deutschland lebenden Menschen einen Migrationshintergrund, 19 Prozent der Bevölkerung. Mädchen und Frauen stellen fast genau die Hälfte dieser Gruppe, aber dem organisierten Sport schließen sich nur wenige an. Sind  Sechs- bis Elfjährige (21 zu 58 Prozent) und Jugendliche von 15 Jahren (28 zu 42 Prozent) viel seltener aktiv als gleichaltrige Mädchen ohne Migrationshintergrund, gilt das für Frauen verstärkt. Nach Schätzungen betreiben 1 bis 4 Prozent der erwachsenen Migrantinnen organisiert Sport, im Durchschnitt aller Frauen sind es etwa 20 Prozent. Die Integration dieser Zielgruppe ist für den organisierten Sport ein sozialer Auftrag, aber auch eine Chance, den in Folge des demographischen Wandels prognostizierten Mitgliederrückgang im DOSB zu bremsen.

 



  • Migrantinnen sind im Sport nach wie vor unterrepräsentiert. (c) LSB NRW | Foto: Erik Hinz
    Migrantinnen sind im Sport nach wie vor unterrepräsentiert. (c) LSB NRW | Foto: Erik Hinz