Gorodki ist für alle da

Ein Wurfstock, fünf Klötzchen, ein Spielfeld: Schon kann ein Sport russischen Ursprungs beginnen, den Spätaussiedler nach Deutschland gebracht haben.

Mit dem "Bit" werden die zu Figuren gestellten "Gorodki" aus dem Spielfeld befördert. (Foto: picture-alliance)
Mit dem "Bit" werden die zu Figuren gestellten "Gorodki" aus dem Spielfeld befördert. (Foto: picture-alliance)

Wenn die Gorodki – so heißen die Holzklötzchen im gleichnamigen Wurfspiel; wenn Gorodki also sprechen könnten, hätten sie eine Menge zu tuscheln und zu plappern ob all der Aufregung. Anfang Juni waren einige von ihnen im Fernsehen, bei „Schlag den Raab“. Im neunten Spiel des Abends sausten sie durchs Pro-Sieben-Studio; über 4 Millionen Menschen sahen zu.

Kurz darauf, am zweiten Juli-Wochenende, reiste eine Abordnung von Stuttgart nach Silverstone, zum Großen Preis von Großbritannien. Marussia Motors, Moskauer Sportwagenhersteller und Co-Betreiber eines Formel-1-Teams, nahm das Rennen zum Anlass, neben seinen Autos das russische Wurfspiel zu präsentieren. Sergej Gergert, Mitarbeiter des Landessportverbandes Baden-Württemberg (LSV) im Programm Integration durch Sport (IdS) und seine mobile Gorodki-Ausrüstung ermöglichten es. Die Einladung von Marussia Motors hatte Edwin Feser übermittelt, in Karlsruhe lebender Vizepräsident des Internationalen Gorodki-Verbandes.

Gorodki, ganz einfach

Ausstattung: fünf Gorodki (Holzklötzchen), ein Bit (Wurfstock), eine ebene Fläche inklusive Spielplatz (Wettkampfgröße 2 auf 2 Meter) und Abwurfmarkierungen („Kon“, 13 Meter und „Polukon“, 6,50 Meter), zwei Spieler oder zwei Mannschaften.

Regeln: Mit dem Bit auf die nach vorgegebenen Figuren - insgesamt 16, von „Kanone“ bis „Fax“ - aufgestellten Gorodki des eigenen Spielplatzes werfen. Ein Spielzug sind höchstens zwei Versuche. Schlägt der erste Gorodki aus der Spielfläche, rückt der Werfer für den zweiten von „Kon“ auf „Polukon“ vor.

Ziel: Die Gorodki mit möglichst wenigen Versuchen aus dem Spielplatz schlagen. Dann folgt eine neue Figur. Gewinner: Wer fürs „Ausspielen“ aller Figuren wenige Würfe benötigt.

Variation: Die Regeln können und sollten nach Leistungsniveau und Alter modifiziert werden.


Raab und Silverstone, LSV und IdS, Sergej Gergert und Edwin Feser: Diese Namen stehen für den Aufbruch von Gorodki – der von Edwin Feser vor allem. Das im Mittelalter in Russland entstandene Spiel entwickelte sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einem führenden Sport der Sowjetunion – der noch vor deren Ende zusammensackte: Statt hunderttausende Spieler wie einst gibt es heute wohl 10.000 bis 20.000. Dafür verfrachtete ihn Feser, Sozialarbeiter russischer Herkunft, in den Westen. Inspiriert von Erinnerungen seiner Jugend verwurzelte er das Spiel im Jahr 2000 in Karlsruhe (siehe Interview).

Von dort breitete es sich aus – zögerlich zunächst und lokal. Obwohl es nicht viel mehr brauchte als Eigeninitiative, einen Wurfstab (Bit), die fünf Gorodki, einen ebenen Platz ausreichender Größe (nach Regeln 2 auf 2 Meter plus Bahn) und mindestens zwei Akteure. Aber es fehlte noch jede Struktur – und auch der beidseitige Blick. „Ich dachte zunächst, ich sei nicht für die Deutschen zuständig“, sagt Feser. „Dann habe ich gemerkt, wie sich die russischen Kinder und ihre Eltern fragten: Warum  Gorodki und nicht Fußball oder Boxen, wie alle anderen? Da wurde mir klar, dass wir alle erreichen müssen, um den Sport auszuweiten.“

Diese Ausweitung ist seit 2009 das Ziel des LSV. Wie ein Boule-Feld taugt ein Gorodki-Platz als sozialer Treffpunkt: Aufbauend auf dieser Erkenntnis und dem schon länger bestehenden Kontakt zu Feser erhob seine IdS-Sektion die Sportart 2009 zu einem zentralen Element ihrer Arbeit. Zurzeit entsteht ein nationales Netzwerk. Es soll Spätaussiedler aufnehmen, ein Stück vertrauter machen mit ihrer Umgebung, einen Anker für Identität und Engagement setzen. Aber es geht um Größeres,  nämlich eine kultur-, geschlechts- und altersübergreifende Zielgruppe. Gorodki ist für alle da, lautet die Botschaft - explizit auch für Migranten/innen anderer Herkunft.

Sie zu erreichen dürfte wiederum die Aufnahme in den hiesigen Spiel- und Sportkanon voraussetzen. Entsprechend der Aussage von Torsten Schnittker, IdS-Programmleiter beim LSV:  „Wir wollen das integrative Potential von Gorodki für den organisierten Sport und alle Beteiligten nutzen.“ Denn die Vereine müssen mit Blick auf den demographischen Wandel neue Zielgruppen erschließen. Und Spätaussiedler, die vorerst die mit Abstand meisten Gorodki-Spieler stellen, repräsentieren mit rund 4,5 Millionen Menschen die zweitgrößte Zuwanderer-Gruppe.

Es geht voran. Zuletzt eröffnete Blauweiß Dörpen, IdS-Stützpunktverein im Emsland, eine Gorodki-Anlage, die sechste in Niedersachen. In Baden-Württemberg gibt es zurzeit neun Standorte, weitere wurden oder werden in Mecklenburg-Vorpommern, Hamburg und Hessen eingerichtet. Der LSV schätzt die Zahl deutscher Gorodki-Spieler auf 250 bis 300. So ein Auftritt wie bei Stefan Raab, bei dem LSV-Spezialist Sergej Gergert als Schiedsrichter fungierte, stärkt die Hoffnung auf weitere Verbreitung.

Das Vorhaben ist bemerkenswert. Importsport, wenn man ihn so nennen will, gibt es in aller Breite. Aber weder Boccia noch Capoeira noch Jiu-Jutsu und all die anderen landes- oder kulturkreistypischen Bewegungsarten, Spielformen, Kampfkünste wurden von und für Migranten in Deutschland eingeführt. Erst recht waren sie keine Projekte, von einem Verband angetrieben. Eine weitere Ausnahme mag Sambo bilden, ein Kampfsport russischer Prägung, der auch von IdS-Stützpunktvereinen in mehreren Bundesländern angeboten wird. 

Eine Disziplin von Grund auf aufzubauen, geht nur peu á peu – zumal Feser eine eigene Gorodki-Variante mit leichteren Bits eingeführt hat. „Die russischen wiegen fünf Kilo, sie sind nur was für Kraftmeier und sehr laut. Und die Deutschen mögen keine lauten Spiele“, sagt er. Solches Gerät produziert kein Sportartikler. Das IdS-Team im Südwesten hält Materialpakete samt Flyer und Banner bereit, die es auf Wunsch verschickt und im Rahmen von Vorführungen und Seminaren einsetzt. Der LSV liefert Know-how aus, etwa den Bau eines Platzes betreffend, hat in Kooperation mit dem Standort Karlsruhe ein Handbuch herausgegeben und die Homepage www.gorodki.de entwickelt, als Knotenpunkt für Information und Austausch.

Der Impuls aus Baden-Württemberg wirkt grenzübergreifend. Im Juni hatte Karlsruhe, schon 2006 WM-Gastgeber, zum Internationalen Gorodki-Forum geladen. Neben einheimischen Teams reisten Spieler und Trainer aus Weißrussland, der Ukraine, Estland und Russland an. Schnittker sagt: „Unsere Forumsgäste haben erlebt, dass Gorodki nicht nur Leistungssport ist, sondern auch einen Mehrwert bietet als gemeinschaftliche, kommunikative Sportart.“, Feser spricht gar von einer „Wiedergeburt“ des Sports in diesen Ländern durch seine Initiative.

Fakt ist: Das von ihm entwickelte Euro-Gorodki ist von der Internationalen Föderation anerkannt, er selbst steht als ihr Vizepräsident für diese Variante ein – und das auch im Rahmen der diesjährigen Weltmeisterschaft: Sie findet 2011 im Verbandssitz St. Petersburg statt. 


  • Mit dem "Bit" werden die zu Figuren gestellten "Gorodki" aus dem Spielfeld befördert. (Foto: picture-alliance)
    Mit dem "Bit" werden die zu Figuren gestellten "Gorodki" aus dem Spielfeld befördert. (Foto: picture-alliance)