„Das Potenzial lag lange brach“

Michael Teichmann leitet SIQ, ein Projekt der steirischen Caritas. Ein Interview über Integration durch Sport in Österreich, Skifahren mit somalischen Kindern und „Empowerment“.

Michael Teichmann leitet in Graz integrative Sportprojekte. (Foto: privat)
Michael Teichmann leitet in Graz integrative Sportprojekte. (Foto: privat)

Die Caritas tut das, was in Deutschland in erster Linie der organisierte Sport tut – sie kümmert sich systematisch um Integration durch Sport. Wie kommt das?

Im organisierten Sport in Österreich war das Bewusstsein für systematische Integrationsarbeit lange Zeit nur punktuell vorhanden. Da besteht also ein Bedarf aus unserer Sicht, den die Caritas der Diözese Graz-Seckau zu schließen versucht. Unser Projekt SIQ - das steht für Sport, Integration, Qualifikation - ist 2007 entstanden. Zwei unserer späteren Mitarbeiter haben damals in einem Caritas-Flüchtlingsheim für sogenannte unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (Kinder und Jugendliche, die ohne Eltern oder Erziehungsberechtigte Schutz suchen vor Verfolgung, d. Red.) gearbeitet. Irgendwann hatten sie die Idee, die Sport- und Freizeitbetreuungsarbeit in einen größeren Rahmen zu stellen. Sie haben beim Europäischen Flüchtlingsfonds (EFF) um Förderung angesucht, die schließlich bewilligt und bis heute jedes Jahr verlängert wurde.

Wie genau sieht Ihre Arbeit aus?

Im Prinzip ist sie zweigeteilt. Einerseits sehen wir Sport als Werkzeug, um die Integration von Kindern und Jugendlichen zu erleichtern und zu beschleunigen. Deswegen  bieten wir Jugendlichen möglichst niederschwellige Sportzugänge an, also zum Beispiel die Teilnahme an Ski- oder Rodel-Wochenenden, aber auch an wöchentlichen Sportkursen oder Turnieren. „Qualifikation“ auf der anderen Seite bedeutet, Mitgliedern der Zielgruppe - in diesem Fall auch volljährigen - die Aus- und Fortbildung im Bereich des Sports zu ermöglichen. Sei es durch Finanzierung oder indem wir ihnen bei der Nostrifizierung ihrer Lizenzen helfen (Anerkennung von im Herkunftsland gemachten Trainerscheinen, d. Red.). Es ist ja ein Idealfall, wenn jemand aus der Community Trainer werden will und somit als Bindeglied fungieren kann.

Siq: So funktioniert's

Magister Michael Teichmann, ein studierter Kulturanthropologe, leitet das Team von Sport, Integration, Qualifikation (Eigenschreibweise SIQ!). Darin bündelt die Caritas der Diözese Graz-Seckau sozialintegrative Maßnahmen mit Sportbezug, vom Freizeit- über den Vereins- bis zum Leistungssport. Das Projekt richtet sich im Kern an „Konventionsflüchtlinge“ (Flüchtlinge nach Genfer Konvention) und subsidiär Schutzberechtigte (ihr Asylantrag wurde abgelehnt, aber im Herkunftsland besteht Gefahr für Leben und Gesundheit). Es wird zu großen Teilen durch den Europäischen Flüchtlingsfonds (48 Prozent) und Österreichs Bundesinnenministerium (45 Prozent) finanziert, den Rest steuern zu gleichen Teilen das Land Steiermark und die Stadt Graz bei. Die Mittel reichen für 1,5 Vollzeitstellen plus vier bis fünf Honorarkräfte, die als Trainer für SIQ arbeiten. Hinzu kommen etwa 15 Ehrenamtliche und Praktikanten. Teichmann, 38, arbeitet seit 2003 bei der Caritas und seit 2008 als SIQ-Teamleiter.


Wie ist das, zum Beispiel mit Kindern aus Somalia, Nigeria oder Afghanistan Ski zu fahren?

Sehr spannend. Das Ganze ist natürlich völlig neu für die meisten Teilnehmer, aber es gibt überraschend viele Bewegungstalente, die ziemlich schnell eine solide Technik entwickeln. Vor allem aber sind diese Adventure-Tage sehr intensive Gruppenerlebnisse, die soziale Kompetenzen, aber auch persönliche Identität fördern. Und noch etwas ist wichtig: Die Kinder und Jugendlichen lernen eine jener Sportarten kennen, die zum österreichischen Selbstverständnis gehören. Das erleichtert es ihnen, sich zugehörig zu fühlen.

Ihre Kernzielgruppe sind Flüchtlinge. Wäre es nicht wünschenswert, die Arbeit auf Migranten im Allgemeinen auszudehnen?

Diese Zielgruppe entspricht dem Profil unserer Geldgeber, vor allem dem EFF und dem Bundesinnenministerium, daran haben wir uns zu halten. Und eine Trainerausbildung oder ein Skiwochenende sind nun mal relativ kostenintensiv, deshalb hat eine Konzentration auf die Kinder und Jugendlichen aus Tschetschenien, Afghanistan oder Somalia schon ihren Sinn. Außerdem erreichen wir beispielsweise bei Turnieren im Rahmen unserer interkulturellen Streetsoccerliga oder mit dem Deeskalationsprojekt „Fußball und Mut“ durchaus hunderte Kinder und Jugendliche. Darüber hinaus muss man sagen: Natürlich würden wir uns für die Zukunft eine offene Zielgruppe wünschen, einfach weil der Integrationsgewinn dadurch wesentlich höher wäre. 

„Wir legen mehr Gewicht auf Empowerment“

Wenn Sie von „alle“ sprechen: Muss langfristig angelegte Integrationsarbeit nicht die Multiplikatoren einbinden, und zwar auch die ohne Migrationshintergrund?

Das tun wir ja. Wir legen immer mehr Gewicht auf Empowerment, also auf Maßnahmen, die Selbstwertgefühl und Partizipationsmöglichkeiten von Migranten und Migrantinnen fördern, aber auch die beidseitige interkulturelle Sensibilität. Wir veranstalten entsprechende Workshops und Tagungen, betreiben Netzwerk- und Öffentlichkeitsarbeit. Wir hatten kürzlich zum Beispiel eine Podiumsdiskussion zum Verhältnis zwischen Kampfsport und Ehrbegriff bei männlichen Jugendlichen. Da haben sich Vertreter des organisierten Boxsports unter anderem mit zwei tschetschenischen Taekwondo-Kämpfern ausgetauscht. Wir wollen durch solche Angebote die Trainer und Verantwortlichen in den Vereinen für interkulturellen Dialog öffnen. Interessierte sollen sich dann gezielt weiterbilden können, entweder auf eigene Faust oder bei uns. 

Wie ist Ihr Kontakt zu den Vereinen?

Gut, und er wird immer besser. Wir waren von Anfang an bemüht, diese Kontakte mit aufzubauen. Unsere Grundidee ist ja, unserer Zielgruppe niedrigschwellige Angebote zu machen und sie an Vereine zu vermitteln, sobald ihr Interesse am Sport groß genug ist. 

Wie ist Ihr Eindruck: Kommt der organisierte Sport in Bewegung?

Ja. Wir sind zwar nach wie vor die einzigen, die Sport systematisch für die integrative Arbeit nutzen, aber langsam wird dieses lange brachliegende Potenzial entdeckt. Vor allem die drei großen Dachverbände (ASKÖ, ASVÖ, Union, d. Red.) treten seit ein, zwei Jahren häufiger ans uns heran mit Kooperationsvorschlägen. Bei dem erwähnten Projekt „Fußball und Mut“ arbeiten wir zum Beispiel mit Vereinen in Graz intensiv zusammen. 

Die Caritas kooperiert mit dem Landesssportamt der Steiermark, dem Sportreferat der Landesregierung. Sie beide haben unter anderem an dem EU-Projekt „Creating a Level Playing Field“ teilgenommen. Was hat das gebracht?

Dieses Projekt hat vor allem einen Austausch auf europäischer Ebene ermöglicht. Wir konnten uns Anregungen bei Themen holen, in denen andere Länder schon weiter sind. 

Was war das konkret?

Wir haben zum Beispiel das Konzept Sport plus X des DOSB kennengelernt, also die Verbindung von sportlichen Angeboten mit sozial-kulturellen Maßnahmen. Das klingt sehr überzeugend. Und was Kampfsport und männliche Jugendliche betrifft, ein Schwerpunkt unserer Arbeit, haben wir Zugang zu neuen Informationsquellen und Projekten bekommen. Es gibt aber auch Gebiete, auf denen wir vielleicht etwas mehr Erfahrung haben als andere.

Zum Beispiel?

Muslimische Mädchen und Sport ist so ein Thema. Lisa Narnhofer, die als Praktikantin bei SIQ! begonnen hat und mittlerweile Mitarbeiterin ist, hat darüber ihre Diplomarbeit verfasst. Wir haben außerdem entsprechende Sportkurse angeboten und zum Beispiel eine Tagung veranstaltet.

(Quelle: DOSB / Das Interview führte Nicolas Richter)


  • Michael Teichmann leitet in Graz integrative Sportprojekte. (Foto: privat)
    Michael Teichmann leitet in Graz integrative Sportprojekte. (Foto: privat)