Ein Trainer fürs Leben

1989, Wendezeit und Zeitenwende: Tausende Spätaussiedler kommen nach Deutschland, in ein neues Leben, in dem sich gerade die Kinder fremd fühlen. Aber manche haben Glück. Eine niedersächsische Geschichte aus den Tagen, als das Vorhaben „Integration durch Sport“ laufen lernte.

Text: Johanna Roth

 

Kaum haben die vier die Umkleide betreten, schon ist es wie früher. Sie setzen sich artig und in Reihe auf die Bank: Leo, Viktor, die Brüder Eduard und Waldemar. Christoph Bensmann stellt sich vor sie, verschränkt die Arme, lehnt sich ans Waschbecken. Er redet, sie hören zu. Man erwartet fast, dass sie gleich loslaufen, hinaus aufs Spielfeld, bereit, ihr Bestes zu geben.

Aber das ist lange her. Sie sind nicht mehr die C-Jugend des SV Viktoria Georgsmarienhütte, sondern berufstätige Familienväter Anfang 30 mit Autoschlüsseln in der Hand. Nur Christoph Bensmann, der ist noch immer ihr Trainer, irgendwie. Er ist es seit mehr als 25 Jahren, er wird es wohl bleiben.

Georgsmarienhütte, das ist Südniedersachsen, nahe Osnabrück. 1989 bekam die Stadt Familienzuwachs, wie viele Orte in Deutschland: Spätaussiedler aus der Sowjetunion zogen mit ihren Kindern in die „Berliner Straße“, eine ehemalige Siedlung britischer Soldaten im Stadtteil Alt-Georgsmarienhütte. Sie trugen deutsche Nachnamen, Engel, Schulz und Ekkart, aber die deutsche Sprache kannten zumindest die Kinder nicht. Die Eltern arbeiteten den ganzen Tag. Viele Jungs (und Mädchen) langweilten sich zu Hause, in der Schule fanden sie kaum Anschluss. Auch die vier, Söhne kasachischer Eltern, fühlten sich fremd, daran erinnern sie sich gut. Und schlimmer: nutzlos.

Bis Christoph Bensmann klingelte. Der war damals 23 und wollte eigentlich Geld verdienen im Sport, sich ein zweites Standbein als Trainer aufbauen neben dem Schreibtischjob als Verwaltungsbeamter; er arbeitete in der Wohngeldstelle der Stadt. Dem Verein war er schon deshalb verbunden, weil er in Georgsmarienhütte groß geworden war. Aber es gab niemanden zum Trainieren. Den Jugendmannschaften im Fußballverein fehlte chronisch Nachwuchs.

Zum ersten Training in Pantoffeln

Wie gesagt: städtische Wohngeldstelle. Weil er dort arbeitete, wusste Bensmann, dass Familien mit Kindern in die Berliner Straße gezogen waren. Er beschloss, einfach mal hinzufahren und zu fragen. Ob sie nicht mitkommen wollten? Die Eltern waren froh, dass den Kindern eine Beschäftigung angeboten wurde. Sie vertrauten ihm. Und die Jungs selber? „Wir wussten überhaupt nicht, was Fußball ist“, sagt Eduard. „In Kasachstan kannten wir das nicht.“ Zum ersten Training kam er in Pantoffeln. Darüber lachen sie heute noch.

Christoph Bensmann klingelte die ganze Siedlung ab. Als die Mannschaft schließlich stand, gehörten zwei deutsche Jungen dazu. Der Rest waren Kasachstan- und Russlanddeutsche, auch Vietnamesen und Türken. Wobei Letztere teils hier geboren waren, während Erstere alles lernen mussten, angefangen bei den Worten. „Platz“, „Schuss“, „Trainer“ – lauter Rätsel.

„Zum Fußballspielen“, sagt Bensmann heute, „braucht man keine Sprache. Nur einen Ball.“ Mit diesem Pragmatismus bestritten Trainer und Mannschaft die nächsten Jahre. Bensmann suchte heraus, welches Sportgeschäft gerade Fußballschuhe im Angebot hatte. Er besorgte sich eine leicht zu merkende Telefonnummer – die Jungs können sie heute noch. Er machte Ausflüge mit ihnen, hielt Kontakt mit den Eltern, hatte ein Auge auf die Schule.

Der ursprüngliche Plan, Trainer zu werden, wurde zu einem viel besseren: den Jungs nicht nur Fußball näherzubringen, sondern auch das Leben in Deutschland. Das half ihnen wie dem SV Viktoria 08. Der Verein wurde 1990 als einer der ersten in Niedersachsen (und Deutschland) zum Stützpunkt des kurz zuvor gegründeten Programms „Integration im Sport“ (das damals „Sport für alle – Sport mit Aussiedlern“ hieß). Es waren rasante erste Jahre, auf die weitere folgten, als Anfang der 90er-Jahre zu den Spätaussiedlern die Flüchtlinge aus dem sich auflösenden Jugoslawien stießen.

Vier Hänschen lernen schnell

Integration war schon länger ein zentrales Thema in der Stadt gewesen – türkisch(stämmige) Menschen waren teils in den Sechzigern an den Stahlstandort gekommen, die sogenannten Gastarbeiter; nun erreichte dieses Thema den Verein. „Christoph hat uns zum richtigen Zeitpunkt gesucht und gefunden“, sagt Leo Ekkart und zitiert: „Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr. Wir waren seine Hänschen.“ Die lernten, sich im neuen Leben zurechtzufinden und sich gebraucht zu fühlen; sie wurden mutig: Wenn in anderen Mannschaften mal ein Spieler fehlte, seien sie sofort eingesprungen. Letztlich habe es nur drei Regeln gegeben: Spielt Fußball. Kommt zum Training. Baut keinen Mist.

Letzteres war keine Floskel, sondern Ausdruck tiefer Sorge. Georgsmarienhütte besteht aus fünf einzelnen Teilen, die in den 70er-Jahren zu einer Stadt verschmolzen wurden. Es gibt keine Altstadt, kein Zentrum, wenig Schönes. Eine Stadt, in der man sich leicht langweilt als Jugendlicher. In der man sich schnell verliert, ohne dass jemand etwas merkt. In einer Siedlung mit Sozialwohnungen, auch für die Spätaussiedler gebaut, herrschte in den Kellern lange ein heftiges Drogenproblem.

Christoph Bensmann, beflügelt von seiner neuen Aufgabe, hätte auch dort am liebsten etwas getan. Aber das war Sache der Sozialarbeiter, der Eltern und Psychologen. Er konnte nur versuchen zu verhindern, dass die Kinder aus seinen Mannschaften auf den Gedanken kamen, ihnen fehle etwas, das sie mit Drogen kompensieren müssten.

Fußball statt Drogen, Fußball als Droge

Bloß keine Langeweile, das war sein Rezept. Anscheinend hat es funktioniert. Klar habe es welche gegeben, die auf die schiefe Bahn geraten seien, erinnern sich die Ehemaligen. Trinken, Prügeleien, Autos knacken, solche Sachen. „Das waren aber auch Jungs, die mit Fußball nichts anfangen konnten und bald nicht mehr zum Training kamen“, sagt Leo. „Wir waren in der Zeit auf dem Bolzplatz.“

Fußball statt Drogen, Fußball als Droge, wie man will. Sie spielten in den Schulpausen, nach dem Mittagessen, bei jedem Wetter. „Nach der Schule“, sagt Leo, „habe ich zu Hause gesessen und auf die Uhr gestarrt. So lange, bis endlich Training war.“ Sein erstes Bier habe er mit 19, 20 Jahren getrunken. Noch heute sind ihm bierselige Fußballer ein Graus. Er wohnt in Bad Laer, 20 Minuten mit dem Auto entfernt, hat eine Familie gegründet und arbeitet als Betriebsschlosser. Fußball spielt er selten. Er hat‘s versucht, aber ihm fehlt eine so ehrgeizige Mannschaft wie damals.

Für Leo war die Zeit im Verein besonders wichtig. Die anderen konnten sich wenigstens ein bisschen verständigen. Leo aber saß mangels Vokabular stumm beim Trainer im Auto, wenn der diejenigen heimbrachte, deren Eltern sie nicht von den Spielen abholen konnten. Bensmann erinnert sich genau, wie der Junge auf diesen Fahrten sprechen lernte: „Die. Ampel. Ist. Rrrrot.“ Integration durch Sportverein.

Niemand soll alleine spielen müssen

Leo war Bensmanns Sorgenkind. Er war oft traurig, manchmal wütend, fühlte sich ausgegrenzt. Einmal rannte er weg vom Training, weil er sich mit Eduard gezofft hatte. Bensmann fuhr mit dem Auto hinterher, setzte sich neben ihn auf die dunkle Treppe: „Alles wird gut.“ Sie redeten so lange, bis die Sache aus der Welt war.

„Fußball hat mich aufgepäppelt“, sagt Leo. Was Bensmann alles für ihn und die Jungs geleistet habe, habe er erst viel später realisiert. „Christoph war eine Art Vater“, sagt er. Seinem Sohn, der bald in dem Alter ist, in dem er einst nach Deutschland kam, möchte er vermitteln, was er damals gelernt hat: Niemand soll alleine spielen müssen.

Wie viel dieser Haltung ist im Verein geblieben? Aus den Jungs ist etwas geworden, aber den demografischen Wandel spürt man auch in Alt-Georgsmarienhütte. Zwischen 1995 und 2013 sank die Einwohnerzahl um elf Prozent. Wie 1989 fehlt es dem Verein an Nachwuchs. Von den einst 17 Jugendmannschaften sind neun geblieben. Die meisten Familien von damals sind schon lange aus der Berliner Straße weggezogen.

Und natürlich ist der SV Viktoria 08 kein Stützpunktverein mehr, die Förderung durch „IdS“ war und ist ja zeitlich begrenzt. Aber der Anschub von damals, Bensmanns ganzes Engagement sind weiter sichtbar. Viele von denen, die in den 90ern neue Bürger und neue Mitglieder wurden, sind noch aktiv und halten den Verein am Leben. Und ihre Kinder tragen dazu bei, dass die Jugendabteilung nicht stärker schrumpft.

Alle landen – einer in der Bundesliga

Betreut werden sie jetzt von anderen. Christoph Bensmann hat eine Weile die Mannschaft seines Sohnes trainiert, die es bis in die Regionalliga schaffte. Inzwischen agiert er vor allem im Hintergrund, ist zuständig für die Organisation des jährlichen Weihnachtscups mit Jugendmannschaften aus ganz Deutschland. Ein Projekt, in das er viel Mühe investiert, aber inhaltlich vollkommen anders ist als seine Integrationsarbeit von einst.

In Georgsmarienhütte leben kaum Flüchtlinge. Aber wenn in die Berliner Straße nun Familien aus Syrien einzögen: Zöge Bensmann wieder von Haus zu Haus? „Ich würde mich sicherlich engagieren, aber Jüngere einbeziehen“, sagt er. Es zumindest versuchen: Leute für das Ehrenamt zu begeistern, werde immer schwerer. Das bedrückt ihn spürbar.

Christoph Bensmanns Frau sagt: „Mein Mann kann nicht weniger als 100 Prozent. Eigentlich sind es eher 120.“ Er selbst sagt, er sei Idealist. Er habe einfach gemerkt, dass ihm das liege – nicht nur sportlich zu motivieren, sondern auch persönlich. Die Ehemaligen sagen, er sei als Trainer ein Perfektionist gewesen, habe gute Technik sehen wollen – und genauso den Spaß am Spiel.

Vielleicht ist das das Rezept, das einen aus Georgsmarienhütte zum Profi gemacht hat: Viktors kleiner Bruder Konstantin spielt als Profi beim FC Ingolstadt 04. Einer von vielen, die, jeder auf seine Weise, angekommen sind und manchmal zurückkehren. Wie die vier Jungs von damals. Natürlich waren sie da, als Christoph Bensmann im letzten Jahr 50. Geburtstag feierte.